In der Zeitung las ich schon vor vielen Jahren, dass deutsche Soldaten in Bosnien Krieg führen. In der Zeitung las ich, dass Radfahrer in den USA nicht nur Helme tragen, um bei Unfällen den Kopf zu schützen, sondern sich auch Gasmasken über das Gesicht ziehen, damit sie sich durch die Abgase der fahrenden oder im Stau stehenden Autos nicht vergiften. Abgebildet ist ein Radfahrer mit Gasmaske. Im Hintergrund steht ein kleines Mädchen. Das kleine Mädchen bin ich. Um den Bauch trägt es eine blaue Gürteltasche aus Segeltuch mit roten Lederpaspeln. Darin ist eine Gasmaske. Das Mädchen hat sie oft zu Hause zur Probe aufgesetzt, weil die ängstliche Großmutter das so wollte. Es geht zum Bunker, nicht weit vom Siedlungshäuschen. Unterwegs sieht es einen Mann, er hat eine Waschschüssel aus Emaille auf den Kopf gesetzt, aus Angst vor Bombenhagel. Die Nachbarin sagt, er tickt nicht richtig. Die Großmutter erklärt dem Mädchen, dass dies (leider) kein ausreichender Schutz sei. Nach „Kriegsende“ will das Mädchen die Gürteltaschen nicht tragen, obwohl sie so modern sind. Das Mädchen fährt ohne Helm Fahrrad, nie wieder will es eine Gasmaske tragen, und niemals wird es Männer verstehen, die sich Stahlhelme aufsetzen und in den Krieg ziehen.
Heute fragt sich eine alte Frau: Warum haben die Menschen nichts aus den Erfahrungen der beiden großen Weltkriege mit den vielen Verlusten gelernt? Warum herrscht – auch bei weiten Teilen der Feministinnen – die Ansicht vor, man könnte, indem man Bomben auf ein Land wirft, Konflikte lösen? Oder gar: das Volk vom Tyrannen befreien? In dem Aufruf „Frieden schaffen“, der aus der ‚Mitte der Gesellschaft‘ kommt, heißt es: „Die Welt darf nicht in einen neuen großen Krieg hineinschlittern. Die Welt braucht Frieden. Das Wichtigste ist, alles für einen schnellen Waffenstillstand zu tun, den russischen Angriffskrieg zu stoppen und den Weg zu Verhandlungen zu finden.“ Die Unterzeichner*innen wenden sich gegen Aufrüstung und Militarisierung, denn sie kennen die Auswirkungen der furchtbaren Weltkriege, vor denen (nicht nur) Bertha von Suttner, Rosa Luxemburg, Clara Zetkin, Luise Zietz, August Bebel und viele andere bereits seit Ende des 19. Jahrhunderts gewarnt hatten.
Rosa Luxemburg hielt im Herbst 1913 in Frankfurt am Main eine Rede, in der sie den Proletarier*innen die Gefahren zeigte, denen sie entgegengingen, und worin sie die Worte sprach: „Wenn uns zugemutet werden soll, auf unsere französischen Brüder zu schießen, so sagen wir: Nein, das tun wir nicht!“ Das war ein Verbrechen, das von den Frankfurter Gerichten mit einem Jahr Gefängnis gerächt wurde. Sie ließ sich nicht schrecken und kämpfte weiter gegen Militarismus und Krieg und für den Frieden.
Heute scheinen Militarisierung und Kriege alternativlos.
Deutschland muss wieder kriegstüchtig werden. Das kostet Geld. Dafür wird im Bildungs- und Sozialbereich ebenso gespart, wie im Kulturbereich. Die Waffenindustrie boomt, neue Märkte, die Destrukte statt Produkte herstellen, entstehen und die Begeisterung, das Vaterland zu verteidigen, soll schon im Kindergarten und in der Schule geweckt werden. Wir fordern Friedenstüchtigkeit statt Kriegstüchtigkeit.
Was will dieser Veteranentag? „Es geht um die Anerkennung derjenigen, die in letzter Konsequenz bereit sind, das Äußerste für andere zu geben, und die ihr Leib und Leben für unser Land einsetzen.“, sagt der Verteidigungsminister. Wir sagen: Wir brauchen keinen Veteranentag und einen nationalen schon gar nicht: Es geht um die Anerkennung derjenigen, die ihre Beteiligung an jedem Krieg verweigern und die sich damit für das Leben aller Menschen einsetzen.
Nieder mit den Kriegen! – überall
„Wir schaffen einen neuen attraktiven Wehrdienst, der zunächst auf Freiwilligkeit basiert.“ So heißt es im gerade verabschiedeten Koalitionsvertrag der Bundesregierung in Deutschland. „Die Betonung liegt auf zunächst“, sagte der Verteidigungsminister. Da hilft es wohl nichts, zu singen: „Nein, meine Söhne geb‘ ich nicht“, wie es der Liedermacher Reinhard Mey mit seinen Freunden 1986 gesungen hat. Wenn es so weiter geht, wird die Vergangenheit die Zukunft sein – wenn wir keinen Widerstand leisten. Die ganze Welt scheint verrückt zu spielen und viel zu viele spielen mit. Es sind nicht nur die Mitglieder und Wähler*innen von AfD und CDU/CSU. Und es sind auch nicht nur die wehrtüchtigen Jungmänner. Seit 2001 dürfen auch Frauen in der Bundeswehr das Töten lernen. Tanja Kreil hat das vor dem Europäischen Gerichtshof erstritten. Frauen können mit dem Urteil vom 11. Januar 2000, das unter Verweis auf den Gleichheitsgrundsatz die Öffnung aller Dienste in den Streitkräften für Frauen fordert, überall dabei sein. Die Idee für die EU-Klage hatten Alice Schwarzer und die damalige Staatssekretärin im Verteidigungsministerium, Michaela Geiger (CDU). Unterstützt wurden sie vom Bundeswehrverband. Als emanzipatorischer Erfolg kann das nicht gefeiert werden.
Gleiche Teilhabe an militärischen Positionen bedeutet auch gleiche Teilhabe an kriegerischen Auseinandersetzungen, an Auslandseinsätzen und an der Tötungsindustrie. Gleichberechtigung hätte auch mit der Abschaffung der Dienste für alle erreicht werden können. Auch viele Männer haben den Dienst bei der Bundeswehr verweigert. Ihnen hätte die Solidarität emanzipierter Frauen gelten sollen. Selbst der wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestages erstellte im August 2003 ein Gutachten zur Zulässigkeit einer Dienstpflicht auch für Frauen, wie sie aktuell wieder diskutiert wird, und stellte fest, dass dem Grundsatz der Gleichberechtigung für Männer und Frauen entsprochen werden könnte, „durch Erstreckung der Dienstpflicht auf Frauen oder durch komplette Abschaffung der Dienstpflicht“. Zurzeit haben wir ein Heer von freiwilligen Söldner*innen.
Frauen können heute mit Stahlhelm und Kampfanzug als Soldatinnen auch bei internationalen Einsätzen dabei sein. Bald wurde die sexuelle Belästigung durch die „Kameraden“ zum Problem. „Sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz ist auch in zivilen Berufen gang und gäbe“, tröstete „Emma“ (3/2002).
Die Bundeswehr ist kein Arbeitgeber wie jeder andere.
Sie ist eine Institution, die täglich für den Ernstfall übt und auf absolutem Befehl und Gehorsam beruht. Sie schafft keine Arbeitsplätze, sondern „Todesplätze“ (Robert Jungk). „Eine Soldatin riskiert heute nicht weniger als der Soldat an den Fronten fern der Heimat ihr Leben – oder zumindest eine lebenslange Traumatisierung“, schrieb Emma in H 1/2011. „Keiner darf mehr fallen“ forderte Käthe Kollwitz schon im Oktober 1918 im Vorwärts (SPD) – und das heißt heute auch keine. Wir wollen, dass niemand mehr nirgends auf der Welt ermordet wird, weder von Soldatinnen noch von Soldaten – von niemandem und weder auf dem Schlachtfeld noch in den Häusern.
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