gewaltfreiheit

Wir kämpfen nicht für Demokratie

Überlegungen zur Renaissance von gewaltfreier Aktion und zivilem Ungehorsam am Beispiel von Stuttgart 21 und von Wolfgang Sternstein

| Lou Marin

In den letzten Jahren ist die Praxis der gewaltfreien Aktion und des zivilen Ungehorsams wieder aufgelebt. Ausdruck davon sind zum Beispiel die Bewegungen gegen Stuttgart 21 und die Renaissance der Anti-Atom-Bewegung, die dann durch Fukushima noch verstärkt wurde. Angesichts dessen ist die Diskussion um ein emanzipatorisches Verständnis von zivilem Ungehorsam dringender denn je. Es geht um die Fragen: Für welche Ziele kämpfen wir? Ist der zivile Ungehorsam reformistisch oder revolutionär? Zwei gewaltfreie Anarchisten der Graswurzelrevolution setzen sich hier kritisch mit der Auslegung des zivilen Ungehorsams von Wolfgang Sternstein (1) auseinander. (GWR-Red.)

Der langjährige Friedensforscher Wolfgang Sternstein schrieb in GWR 354 einen langen Gastbeitrag über die Stuttgarter Revolte, bei dem eine „Definition“ des zivilen Ungehorsams eingeschoben war, den einige LeserInnen fälschlicherweise als programmatische Position der GWR gelesen haben (während der Abdruck seiner Position tatsächlich eher Ausdruck der redaktionellen und pluralistischen Toleranz dieser Zeitung ist, was Positionen aus der gewaltfreien Bewegung anbetrifft).

Hier soll daran erinnert werden, dass der Kern sowohl der Gewaltfreiheit als auch des zivilen Ungehorsams eine – auch von Sternstein selbst immer wieder beschworene – sogenannte Ziel-Mittel-Relation ist, die sich umgangssprachlich in den Slogans „Das angestrebte Gesellschaftsziel muss sich in den angewandten Mitteln ausdrücken“ oder „Der Weg ist das Ziel“ widerspiegelt. Wenn als Ziel nun aber die bestehende Demokratie oder eine sich nicht qualitativ davon abgrenzende „verbesserte Demokratie“ ausgegeben wird, dann ist das ein eklatanter Widerspruch zur Ziel-Mittel-Relation: „Wer zivilen Ungehorsam leistet, dem geht es um die Verbesserung der Demokratie, nicht um ihre Zerstörung.“ (Sternstein) (2)

Die Demokratie ist ein auf Gewalt gebautes System, das – gewaltfrei, aber gründlich – zerstört werden muss, und zwar durch gewaltfreien Widerstand einerseits und dessen konstruktive Ersetzung mittels gewaltfreier gesellschaftlicher Zielvisionen, d.h. Formen direkter, räteförmiger, libertärer oder basisdemokratischer Selbstorganisation von unten andererseits.

Gewaltfreie Ziel-Mittel-Relation versus Demokratie

Denn jede Form bürgerlich-parlamentarischer Demokratie, auch eine bessere, basiert auf den sie tragenden Institutionen der Polizei (nach Innen: Repression), der Justiz (nach Innen: Verurteilungen zu Strafen und Gefängnis) und des Militärs (nach Innen und nach Außen: Kriegsdrohung und -durchführung) sowie auf parlamentarischen Entscheidungen, in denen über die Budgets und die Finanzierung dieser Institutionen entschieden wird. Deshalb sind diese Institutionen pure Gewaltinstitutionen. Sie haben im Falle Stuttgart 21, beispielsweise beim sogenannten „schwarzen Donnerstag“, dem 30. September 2010, nur umgesetzt, wofür sie aufgebaut wurden und jeweils verfassungsmäßig vorgesehen sind: die Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols.

Es ist theoretisch – und auch praktisch – unzulässig, sie nicht mit Gewalt zu identifizieren. Wer den gewaltfreien Grundsatz der Ziel-Mittel-Relation ernst nimmt, kann deshalb nicht für Demokratie kämpfen. Gewaltfreie AktivistInnen können nicht ohne Selbstwiderspruch gegenüber bewaffneten KämpferInnen deren Mittel kritisieren und schließen, diese Mittel würden zu gewaltsamen Zielen führen, andererseits aber selbst für Ziele eintreten, die ebenfalls im augenfälligen Widerspruch zu den von ihnen angewandten Mitteln stehen.

Betroffenheitsanspruch versus abstrakte Territorialität Baden-Württemberg

Viele Menschen denken, dass in Stuttgart nun vorläufig eine verbesserte Demokratie zu bestaunen ist, indem die CDU-Regentschaft nach Jahrzehnten der Regierungsausübung abgewählt und eine grün-rote Regierung installiert worden ist. Doch: Das Ziel der sozialen Bewegung war ursprünglich nicht etwa eine solche Regierung, sondern die Verhinderung des großindustriellen Bauprojekts Stuttgart 21.

In der Tat ist hier eine Vorstellung der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse nach dem Bakuninschen Grundsatz: „Wer das Unmögliche fordert, erreicht vielleicht das Mögliche, wer aber nur das Mögliche fordert, erreicht gar nichts“ weitaus geeigneter, um die Wirkungen von Polarisierungen zu verstehen. Eine besser funktionierende Demokratie plus der Verhinderung des Bauvorhabens mag vielleicht am Ende dieser unmittelbaren Auseinandersetzung als Ergebnis der realen Kräfteverhältnisse stehen, doch in diesem Sinne käme ein solcher Kompromiss allenfalls zustande, weil die eigentlichen Ziele der sozialen Protestbewegung gerade über die demokratischen Verfahren hinausgegangen sind und auch demokratisch zustande gekommene Entscheidungen und Verfahren von den Betroffenen nicht akzeptiert worden sind.

Das war bereits das entscheidende Motiv, welches die Bewegung ganz zu Anfang überhaupt ausgelöst hat. Und in Stuttgart sind nach wie vor viele BasisaktivistInnen bereit, über Geißlers Schlichtungsspruch hinweg und auch bei einem negativ ausgehenden landesweiten Referendum beim dann folgenden Beginn erneuter Bauarbeiten wieder zur direkten gewaltfreien Aktion zu greifen. Sie erinnern damit an ein basisdemokratisches Prinzip der neuen sozialen Bewegungen und der BürgerInneninitiativen aus den Siebzigerjahren: dass nämlich über industrielle Großprojekte zunächst und ausschließlich die direkt vor Ort lebende und betroffene Bevölkerung entscheiden sollte. Das ist ein Grundsatz direkt- und basisdemokratischer Gesellschaftsvorstellungen, der in eindeutigem Gegensatz steht zur parlamentarischen Demokratie oder auch eines Referendums mit ihrer abstrakten Gleichsetzung von Stuttgarter BürgerInnen und weit entfernten BürgerInnen des Landes Baden-Württenberg in – sagen wir – Konstanz am Bodensee.

Erinnerung an die Kultur gewaltfreier Aktion in den Achtzigerjahren

In seinem Artikel über die Bewegung gegen Stuttgart 21 schreibt Sternstein: „Seit 35 Jahren bemühe ich mich mit anderen, die gewaltfreie Konfliktaustragung in diesem Land heimisch zu machen, bisher, so schien es, ohne großen Erfolg. Das hat sich nun grundlegend geändert.“ Warum „ich mit anderen“ (und nicht „andere und ich“)? Hier schreibt sich Sternstein etwas zu, was im Wesentlichen zurückzuführen ist auf eine Vielzahl (damaliger) gewaltfreier Aktionsgruppen, die gerade angesichts von Stuttgart 21 dem Vergessen entrissen werden sollten. Anfang der Achtzigerjahre bestand ein Basisnetzwerk graswurzelrevolutionärer gewaltfreier Aktionsgruppen, das mit zeitweise bis zu 40 Gruppen in Stuttgart, mit rund 20 in Heidelberg und anderen Städten, mit Regionaltreffen gewaltfreier Aktionsgruppen, mit der Kontaktstelle für gewaltfreie Aktion in Stuttgart zu den Hochburgen der Friedensbewegung zählte – das war die basisdemokratische Struktur, die eine Kultur und eine Tradition gewaltfreier Aktion und des zivilen Ungehorsams in Stuttgart und Umgebung begründet hatte, die nun bei Stuttgart 21 wie aus dem Nichts aus ihrer Latenz erwacht ist und von der Sternstein dann spricht: „Vielleicht dürfen wir jetzt die Früchte jahrzehntelanger Mühen ernten.“ Nur hatte dieses Netzwerk gewaltfreier Aktionsgruppen größtenteils ein anderes Verständnis des zivilen Ungehorsams als jenes, das Sternstein heute als anscheinend alternativlos präsentiert.

Kritik autoritärer Vorgaben für zivilen Ungehorsam

Weil durch seine eigene Definition die Ziel-Mittel-Relation der Gewaltfreiheit verletzt wird, tendiert Sternsteins Angabe für Bedingungen des zivilen Ungehorsams zu autoritären Vorgaben, zum Beispiel seine geforderte „klaglose“ Hinnahme der Sanktionen (siehe Kasten).

Demgegenüber sind viele gewaltfreie AktivistInnen der Meinung, dass die Bereitschaft, für gewaltfreie Aktionen vor Gericht bzw. ins Gefängnis zu gehen, keineswegs eine notwendige Bedingung für zivilen Ungehorsam sein muss. Sie kann es nur sein, wenn die Demokratie als Ziel innerhalb der Ziel-Mittel-Relation anerkannt wird. Wer die Demokratie aber als Gewalt-Ziel verwirft, kann von zivilen Ungehorsam-Leistenden auch nicht verlangen, sich vor demokratischen Institutionen zu verantworten. Damit wird die Frage, ob AktivistInnen ihre gewaltfreie Aktion vor Gericht begründen wollen, zu einer strategisch-taktischen Frage. Es gibt Kampagnen, wo dies sinnvoll erscheinen und der Öffentlichkeitsarbeit für die Sache dienlich sein kann, und es gibt Kampagnen, wo es sinnvoller sein kann, sich Gerichtsverfahren wenn möglich zu entziehen. Weder das eine noch das andere ist an sich eine Gewalttat und sollte auch nicht zu einer solchen erklärt werden.

Ähnlich verhält es sich mit der „Bereitschaft“, Festnahmen oder Gefängnis „hinzunehmen“ (Sternstein). Wer als gewaltfreie/r AktivistIn die Demokratie als Gewalt-Ziel verwirft, mag bei einer gewaltfreien Aktion oder Kampagne taktisch ein mehr oder minder großes „Risiko“ eingehen, festgenommen, verhaftet und verurteilt zu werden. Absolut verpflichtet qua Gewaltfreiheit ist er/sie dazu aber nicht. Er/sie geht dieses Risiko eben nicht „freiwillig“ ein, sondern er/sie wird vom Gewaltsystem dazu gezwungen. Er/sie „nimmt es nicht hin“, sondern wird trotz gegenteiligen Willens Opfer der Repression. Das Gewaltsystem ist schuld, er/sie stimmt dem nicht zu und lädt auch keine „Schuld“ auf sich, für die er/sie dann moralisch notwendig „bezahlen“ müsste. Im Rahmen einer taktischen Kampagne, in der „die Gefängnisse gefüllt“ werden sollen, mag es sinnvoll sein, das Risiko einer Festnahme oder eines Gefängnisaufenthalts hoch anzusetzen – in anderen Fällen aber nicht.

Übrigens hatte genau dies, der Skandal der Repression, die Weigerung, Schuld auf sich zu nehmen, sowohl beim „schwarzen Donnerstag“ in Stuttgart und in größerer Dimension in den arabischen Ländern öffentlichkeitswirksam jene mobilisierende Wirkung, die das System der Repression jeweils ins Wanken brachte. Diese gelungene Schuldzuweisung ans System hat erst die weitere Solidarität der Massen auf der Straße verursacht. Es war die Empörung, die dem zivilen Ungehorsam zu seiner Verbreiterung diente, nicht die klaglose Hinnahme!

Lehren aus den „Stuttgarter Gesprächen“

In seinem Artikel geht W. Sternstein auch noch einmal auf die damaligen „Stuttgarter Gespräche“ von 1983/84 zwischen Landespolizei und Innenministerium einerseits und VertreterInnen von BürgerInneninitiativen und Umweltverbänden andererseits ein, an denen er als Vertreter des BBU (Bundesverband der Bürgerinitiativen Umweltschutz) teilnahm.

An diesem historischen Beispiel der Bewegungsgeschichte zeigte sich jedoch, wie eine falsche Ziel-Mittel-Relation innerhalb der Demokratie zur Verschiebung von Realitätsbeschreibungen führt. Sternstein meint rückblickend: „Kernpunkt dieses Konzepts war der Gewaltverzicht, zu dem sich beide Seiten verpflichteten.“ Real entstand daraus jedoch keineswegs ein „Gewaltverzicht“ von Seiten der Polizei. Bei den damaligen Massenblockaden der Friedensbewegung wurden zwar polizeilich-strategisch Schlagstock- und Wasserwerfereinsätze heruntergefahren, doch Blockaden wurden polizeilich sehr wohl – wenn auch mit drei Ankündigungen – durch Anwendung „unmittelbarer Gewalt“ massenhaft geräumt. Dass auch eine Räumung durch Wegtragen polizeilicher Zwang und physische Gewalt ist, ging definitorisch und auch öffentlichkeitswirksam in den damaligen Diskussionen unter, sodass sich ein noch heute bestehendes (falsches) Bewusstsein unter DemonstrantInnen durchsetzte, dass die Polizei dann „Gewaltverzicht“ praktiziere, wenn sie lediglich durch Wegtragen (plus Personalienaufnahme und Festnahme) räumt. Damit einher ging die Vorstellung: „Die Polizei ist nicht unser Gegner“, die leider auch heute wieder auf vielen Anti-Atom-Demonstrationen fröhliche Urstände feiert. Doch: Die Polizei ist unser Gegner, wenn wir als Ziel unserer Aktionen eine herrschafts- und gewaltfreie Gesellschaft anstreben. Nur wer die Demokratie als Ziel anstrebt, für den/die ist die Polizei kein Gegner.

Keine Polizeigespräche über Aktionsabläufe!

W. Sternstein sagt heute – und das ehrt ihn – zu den damaligen Gesprächen selbstkritisch: „Die Gespräche und deren Ergebnis waren in der Friedensbewegung höchst umstritten. Ich fand sie sinnvoll, räume aber ein, dass sie von Anfang an öffentlich hätten geführt werden müssen.“

Für GraswurzelrevolutionärInnen ist das jedoch nicht der wichtigste Punkt. Es geht nicht darum, ob solche Gespräche öffentlich, sondern ob sie überhaupt geführt werden sollten. Sie sind nicht in dem Sinne Verhandlungen mit dem Gegner über inhaltliche Forderungen der Bewegung, sondern Verhandlungen über Aktionsabläufe. In der damaligen Diskussion der Achtzigerjahre um ein von verschiedenen Theoretikern der Gewaltfreiheit (Theodor Ebert, Wolfgang Sternstein, Erich Küchenhoff) vorgetragenes Verständnis von „Zivilem Ungehorsam als aktivem Verfassungsschutz“ antworteten Aktive aus gewaltfreien Aktionsgruppen und der Graswurzelrevolution programmatisch:

„Es ist richtig, jederzeit den politisch Verantwortlichen Verhandlungen über unsere politischen Forderungen anzubieten. Völlig verkehrt, überflüssig, schädlich sind jedoch Verhandlungen mit politisch nicht verantwortlichen Polizisten über unsere Aktionsformen! Sie führen dazu, unsere Direkten Aktionen zu von der Polizei kalkulierbaren Landkartenspielen verkommen zu lassen. […] Wer durch Diskussionen mit der Gegenseite die Mittel der Auseinandersetzung in den Vordergrund rückt, gar Verhandlungen mit der Polizei führt, erklärt sich damit einverstanden, dass unsere politische Auseinandersetzung in ein polizeiliches Problem umgewandelt wird. Man kann sich unserer Meinung nach nicht auf die ‚Klassiker’ der Gewaltfreiheit berufen, um Verhandlungen über Aktionsformen zu rechtfertigen. Der richtige Grundsatz der Dialogbereitschaft bezieht sich auf den Dialog über inhaltliche Forderungen. Hat Gandhi, bevor er zum Salzmarsch aufbrach, mit der britischen Exekutive konferiert? [Hat er nicht, er hat der britischen Legislative, dem Vize-König, lediglich brieflich seine inhaltlichen Forderungen mitgeteilt; d.A.] Hat sich M.L. King, bevor er zum Busboykott aufrief, mit dem Polizeichef von Montgomery an einen Tisch gesetzt, um gemeinsam über geeignete Aktionsformen zu sinnen?“ (3)

Zu solchen Abirrungen kommt es früher oder später, wenn als Ziel des gewaltfreien Kampfes die Demokratie angestrebt wird. Es gibt daher eine revolutionäre und konsequente Form des zivilen Ungehorsams und der gewaltfreien Aktion, und eine reformistische und inkonsequente. (4)

Lou Marin

Anmerkungen:

(1): Vgl. seinen Aufsatz „Die gewaltfreie Revolte gegen ‚Stuttgart 21’“ in GWR 354, S. 1, 6-7.

(2): Alle Zitate aus Sternsteins Artikel in der GWR 354, S. 7.

(3): Saathoff, Günter und Stephan Übelacker: „Zwischen Gegnerschaft und Kumpanei. Unterwerfung unter das staatliche Gewaltmonopol: Gespräche, De-Eskalation, Staatsverträge, in: GWR 78, 1983, S. 19-23, 37.

(4): Vgl. dazu ausführlich Lou Marin: „Ein Jahrhundert des Revolutionären Zivilen Ungehorsams“, in: Jens Kastner, Elisabeth Bettina Spörr (Hg.): „nicht alles tun. Ziviler und sozialer Ungehorsam an den Schnittstellen von Kunst, radikaler Politik und Technologie“, Unrast, Münster, 2008, S. 43-60.