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Frankreich: Öffentliche Diskussion um Polizeigewalt

Das reaktionäre Gesicht speziischer Branchen-Gewerkschaften

| Lou Marin

Nach erneuten Toten und zahlreichen Schwerverletzten hat die französische Regierung Verstöße der Polizei gegen die Verhältnismäßigkeit der Mittel öffentlich zugegeben – und trifft auf eine Welle der Empörung bei den reaktionären Polizeigewerkschaften. (Red.)

Am 9. Januar 2020 wird ein Polizist von Demonstrant*innen gegen die Rentenreform beobachtet, wie er einer bereits festgenommenen und von einem anderen Polizisten abgeführten Demonstrantin mit einem absichtlichen Absatzkick ein Bein stellt – diese stürzt schwer. Doch der polizeiliche Gewaltakt wird gefilmt, das Video geht viral und verursacht eine gerichtliche Untersuchung (1). Am selben Tag verletzt ein Polizist in Paris einen Demonstranten durch zwei aufeinander folgende LBD-Hartgummigeschosse aus nächster Nähe schwer. Der Demonstrant hat zwei Hämatome, davon eines 12 cm groß auf der rechten Brust. Auch das wird gefilmt und geht als Video viral. Eine Untersuchung wird eingeleitet. (2) Am 3. Januar wird der 42-jährige Auslieferer Cédric Chouviat bei einer Verkehrskontrolle aus seinem Wagen geholt und von zwei Polizisten mit der Brust auf den Boden gedrückt (placage au sol). Er stirbt zwei Tage später an den Folgen eines Kehlkopfbruchs und eines Herzinfarkts. Auch diese Polizeigewalt wird gefilmt. Auch hier gibt es eine Untersuchung (3).

Das sind nur drei Fälle von Anfang Januar 2020, auf dem Höhepunkt der Streikwelle in Frankreich. Die Untersuchungen führen prinzipiell nie zu Verurteilungen, in ganz seltenen Fällen zu Versetzungen oder Karriereknicks. Oft sind gänzlich unbeteiligte Menschen Opfer, wie zum Beispiel Chouviat oder Anfang 2019 bei den Gelbwestendemos in Marseille die 80-jährige Zineb Redouane, die starb, weil sie im 4. Stock ihres Hauses die Fenster vor dem Tränengasrauch schließen wollte. Sie wohnte gegenüber der Polizeizentrale, wo es gerade militante Auseinandersetzungen gab und wo sie, wie man inzwischen weiß, von dem CRS-Schützen einer zur Verstärkung aus St-Etienne hinzugezogenen und ortsunkundigen Einheit mit einer Tränengasgranate „Cougar“ beschossen wurde. (4) Von den ganz alltäglichen brutalen Polizeieinsätzen in Frankreichs Vorstädten erzählt der aktuelle Kinofilm „Die Wütenden – Les Misérables“ von Ladj Ly, der ab Ende Januar auch in deutschen Kinos gezeigt wurde. (5)

Regierung distanziert sich erstmals öffentlich von „unverhältnismäßigen“ Einsätzen

Leider sind diese Formen der Polizeigewalt in Frankreich nichts Neues. Besonders der Einsatz von Distanzwaffen aus nächster Nähe und die Verwendung der Hartgummigeschosse LBD 40 sowie GLI-F4, die als „Kriegswaffen“ gelten und ansonsten in Europa nicht zur Polizeiausrüstung gehören, stehen in der Kritik, weil sie hundertfach zu schweren Augenverletzungen, Sehkraftverlusten oder Verstümmelungen an Gliedmaßen geführt haben. In den französischen Presseberichten wird von einer neuen Qualität der Polizeigewalt seit Beginn der Gelbwestenbewegung im November 2018 gesprochen. Tatsächlich stiftete Innenminister Castaner als Hardliner der Repression damals die Polizei zu besonderer Härte an, um möglichst viele „normale“ Demonstrant*innen davon abzuschrecken, zu den Demos zu gehen – eine Strategie, die gescheitert ist. Doch das hohe Niveau der Polizeigewalt in Frankreich geht viel weiter zurück: Als eines von vielen Beispielen erinnere ich nur an den Tod des gewaltfreien Ökoaktivisten Rémy Fraisse, der 2014 beim Widerstand gegen das geplante Staudammprojekt in Sivens durch eine Polizeigranate ums Leben kam – wie immer wurde die anfängliche Untersuchung ohne Verurteilung eingestellt. (6)

Doch der öffentliche Druck auf die Regierung ist groß geworden. Immer wieder werden Fälle von Polizeigewalt gefilmt und durch soziale Netzwerke öffentlich, so dass sich auch die herrschenden Medien immer weniger dieser Tatsache verschließen können. Es gibt zig Initiativgruppen gegen Polizeigewalt innerhalb der sozialen Bewegungen. Polizeiintern wird fast alles vertuscht – es gibt einen unglaublichen Korpsgeist. Eine Reihe versierter Anwält*innen gehen jedoch solchen Fällen nach und bleiben hartnäckig bis zur Aufklärung. Sogar die UN, der Europarat und die KSZE (Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) haben bereits die überbordend hohen Fälle von Polizeigewalt in Frankreich verurteilt. (7)

Am 13. und 14 Januar geschah nun das Unvorstellbare: Nachdem sie jahrelang wie ein Mann hinter jeder Art von Polizeigewalt standen, haben sich zu mehreren Anlässen Präsident Macron, Premierminister Édouard Philippe und sogar der Innenminister und Ex-Hardliner Christoph Castaner unisono von unverhältnismäßigen Einsätzen öffentlich distanziert. Macron hat sogar die Konzipierung einer neuen Polizeieinsatzstrategie gefordert. Das sind nun natürlich lediglich Absichtserklärungen und es bleibt offen, ob das nicht nur Wahlkampfgetöse angesichts der anstehenden Wahlen in 2020 und 2021 ist. Der Begriff „Polizeigewalt“ etwa wird in den Erklärungen der Regierenden sorgsam vermieden. Trotzdem ist das in etwa so, als würden sich zugleich Kanzlerin Merkel und Innenminister Seehofer öffentlich mehrfach gegen die eigenen Polizeikräfte aussprechen. Die abgestufte Einsatzstrategie und die Deeskalationskonzepte der bundesdeutschen Polizei werden in Frankreich in der Presse derzeit übrigens immer wieder als Vorbild herbei zitiert. Einerseits ist dieser Eindruck sicherlich grundfalsch, aber es gibt andererseits tatsächlich eine Differenz in der Dimension der Polizeibrutalität beider Länder. Heiner Busch von der Zeitschrift CILIP-„Bürger beobachten die Polizei“ sagte mir unlängst zum Beispiel, die LBD 40-Waffen hätte NRW-Ministerpräsident Albrecht in den Siebzigerjahren einführen wollen – doch die Polizei selbst hätte das abgelehnt. Das ist solch eine Differenz – ohne hier die BRD-Polizeigewalt verharmlosen zu wollen.

Der Aufschrei der Polizeigewerkschaften – die reaktionäre Seite des Syndikalismus

Doch was passiert nun in Frankreich? Ein Aufschrei des Korpsgeists geht durch die Polizeigewerkschaften. Hier haben wir es leider mit den Nachteilen des reinen Syndikalismus zu tun. So wie sich auch die Gewerkschaften innerhalb der französischen Atombranche an der Bewegung gegen die Rentenreform beteiligen, ohne je die eigene Atomwirtschaft infrage zu stellen, vertreten auch die Polizeigewerkschaften die Interessen ihrer Polizist*innen – und zwar borniert und stockreaktionär. Sie denken keine Sekunde über ihre Berufsinteressen hinaus oder machen sich etwa moralische Gedanken über die Legitimität ihres Berufs. Das prangert z.B. der Bewegungsanwalt Raphaël Kempf an, der sich seit Jahren für die Abschaffung der Armeewaffen und Praktiken wie etwa das Fixieren am Boden einsetzt. Er spricht von einem „systematischen Charakter“ der französischen Polizeigewalt – und nicht etwa nur von Einzelfällen und Unverhältnismäßigkeiten. (8)

Solche Positionen sind undenkbar für die Polizeigewerkschaften. Sie gehen nun gegen die Vorwürfe der eigenen Regierung auf die Barrikaden: Linda Kebbab, die Sekretärin der „Unité SGP police FO“, das ist die Mehrheitsgewerkschaft Force Ouvrière in der Polizei, spricht davon, die Regierung habe sie „fallengelassen“: „Wir hätten es vorgezogen, dass sich der Innenminister an die Polizisten wendet, die das Funktionieren der Regierung garantiert haben.“ Und Frédéric Lagache, Sekretär der anderen relevanten Polizeigewerkschaft „Alliance“ wettert, die Regierung habe „aus politischen Gründen die Seiten gewechselt.“ Und Linda Kebbab wieder: „Der Innenminister spielt mit Worten, während wir um Kollegen trauern.“ (9)

In der Tat geht mit der Polizeigewalt, den andauernden Demonstrationen im Übergang von den Gelbwesten zum Streik gegen das Rentengesetz die Verzweiflung in den unteren Polizeirängen einher: Schon 2019 kam es zu einer einzigartigen Welle von Selbstmorden innerhalb der Polizei – allein rund 90 im Jahr 2019. Auch im Januar 2020 gab es bereits zwei Selbstmorde von Polizisten in Nantes und in Rennes, sowie einen weiteren toten Polizisten, der in Lyon von einem vor einer Polizeikontrolle flüchtenden Lieferwagen überfahren wurde, dazu einen schwer verletzten Polizisten in Marseille, der bei einer Messerstecherei einschritt und dabei selbst einen fast tödlichen Stich ab bekam. (10)

Durch die permanenten Einsätze vieler Polizeitruppen an quasi jedem Wochenende und oft auch unter der Woche seit rund eineinhalb Jahren geht natürlich auch eine Erschöpfung der überforderten Polizei durch deren Reihen.

Feindbild Polizei

Bei ihrer Tendenz ins Reaktionäre und der Korps-Verteidigung in den Reaktionen der Polizeigewerkschaften – in einer Zeit einer aktuellen, gegen den Neoliberalismus gerichteten Massenmobilisierung gerade der Gewerkschaften – spielt nicht nur der hohe Anteil der RN-Sympathisant*innen in der Polizei eine Rolle – 57% laut einer polizeiinternen Umfrage in 2017 (11) –, sondern auch der abgrundtiefe Hass, der ihnen von Teilen der Demonstrant*innen entgegengeschleudert wird. So gab es 2019 auf dem Höhepunkt der Welle der Polizist*innen-Selbstmorde Demosprüche von Teilen der Militanten auf Demos: „Suicidez-vous!“ (Begeht Selbstmord!), von den üblichen direkten Stein- und Molli-Angriffen einmal ganz abgesehen. Polizist*innen sind für militante Bewegungsgruppen pauschal „Faschisten“ and that’s it. Das bleibt alles ohne jede Perspektive – außer der fatalen Perspektive einer Entwicklung hin zum Bürgerkrieg und zum inneren Einsatz des Militärs, der in Frankreich bereits mehrfach stattfand, wenn die Polizeigewalt nicht mehr ausreichte.

Ich erinnere mich, dass wir in der Anti-Startbahn-Bewegung und in der Anti-AKW-Bewegung in den Achtzigerjahren immer wieder Flugblätter verteilt haben, die Polizist*innen dazu aufriefen, zu desertieren und auch Wege zeigten, wie das ging, ohne die eigene Existenz aufs Spiel zu setzen. Es gab die „kritischen Polizist*innen“ in der Friedensbewegung und viele junge Polizist*innen, die direkt aus der Ausbildung kamen und dann sofort bei der Repression gegen die Startbahnbewegung im Wald verheizt wurden, haben tatsächlich ihren Dienst quittiert. Von solch kritisch-konstruktiver und perspektivisch emanzipativer Polizeiagitation unter Respekt der Person sehe ich in Frankreich weit und breit nichts. Die vielfach aufgerissenen Gräben sind zu tief und weiten sich immer nur aus – mit dem Ergebnis, dass die Polizist*innen und ihre reaktionären Gewerkschaften nur immer weiter nach Rechts zum RN (Rassemblement National, früher Front National) getrieben werden.

Lou Marin

Anmerkungen:

(1): https://actu.fr/occitanie/toulouse_31555/toulouse-une-manifestante-chute-suite-croche-pied-dun-policier-video-choque-ministre-reagit_30731678.html

(2): http://www.leparisien.fr/faits-divers/blesse-par-un-tir-de-lbd-le-9-janvier-a-paris-un-manifestant-porte-plainte-17-01-2020-8237991.php

(3):   https://www.revolutionpermanente.fr/Mort-de-Cedric-Chouviat-Mediapart-revele-des-videos-qui-temoignent-des-violences-policieres-lors-de-18653

(4): CRS: Republikanische Sicherheitskompagnie, eine Art Bundespolizei; über den Fall hatte ich berichtet in: „Gelbwesten: Repression und Gegenstrategien“, GWR 435, Januar 2019, S. 5. Inzwischen ist der Täter bekannt, der ganz genaue Tathergang immer noch nicht. Quelle: https://lenumerozero.lautre.net/Le-CRS-responsable-de-la-mort-de-Zineb-Redouane-a-Marseille-est-de-Saint

(5): Siehe dt. Wikipedia-Eintrag zu „Die Wütenden – Les Misérables“.

(6): https://www.mediapart.fr/journal/france/dossier/dossier-sivens-et-la-mort-de-remi-fraisse.

(7): Siehe den Bericht von Willy Le Devin: „Violences policières. Beauveau commence à y croire“ (Polizeigewalt, das Innenministerium gibt es langsam zu), in: Libération, 15. Januar 2020, S. 6.

(8): R. Kempf: „On assiste à une militarisation du maintien de l’ordre“ (Wir sehen derzeit eine Militarisierung der Aufrechterhaltung der Ordnung), Interview in: Libération, S. 4.

(9): Nicolas Massol: „Les syndicats policiers remontés“ (Die Polizeigewerkschaften sind wütend), in: Libération, 15. Januar 2020, S. 3.

(10): Nicolas Chapuis: „Chrisophe Castaner doit composer avec des forces de l’ordre à cran“ (Christoph Castaner sieht sich äußerst gereizten Ordnungskräften gegenüber), in: Le Monde, 16.1.2020, S. 8.

(11): Nicolas Chapuis, ebenda, a.a.O.