New York: Ungerechtigkeit des Kapitalismus

| Anatole Dolgoff

Anatole Dolgoff hatte am 8. April seinen 83. Geburtstag. Wir haben ihm als Kollektiv Buchverlag gratuliert. Und in seiner Antwort-Mail bedankt er sich nicht nur, sondern gibt einen erschütternden aktuellen Einblick in die Lage in New York City, wo er wohnt. (GWR-Red.)

Ich danke euch, liebe Freunde von der Graswurzelrevolution!

Nun habe ich mein 83. Lebensjahr vollendet. Wer hätte das gedacht?

Ich bin dankbar, dass ich nach wie vor bei guter Gesundheit und produktiv bin. Ich lebe von einem Tag zum nächsten; derweil sterben meine langjährigen, lieben Freunde – allen voran Dieter Gebauer. Vielleicht ist das das Schwierigste: zu sehen, wie diejenigen, die deinem Leben Sinn und Kontext gegeben haben, dich verlassen.

New York ist in einem schlechten Zustand. Nicht nur ist der Tod überall um mich her; es ist auch sehr schmerzhaft zu sehen, wie eine der großen Städte der Welt in die Knie gezwungen wird.

Was die Stadt rettet, ist das Heldentum des einfachen Volkes, der Menschen aus der Arbeiterklasse, derjenigen, die am meisten in Gefahr sind: Krankenschwestern, Krankenwagenfahrer, Reiniger der infizierten Räume, Techniker, Notärzte, Kassiererinnen in den Supermärkten, Feuerwehrleute und ja, der Polizei, U-Bahn-Fahrer, Lebensmittellieferanten. Und viele Tausend pensionierte Medizinerinnen und Mediziner, die zurückkehren, um die gefährliche Arbeit der Behandlung hochansteckender Patienten zu verrichten. Es muss dich nur einer von ihnen anatmen! Stellt euch das vor: Eine Frau in den Siebzigern, selbst Teil der Risikogruppe, kehrt in ihren Beruf zurück, um anderen Menschen in dieser Situation zu helfen. Die Krankenhäuser haben keinen Platz mehr für die Toten. Sie werden in Kühllastern auf der Straße gelagert.

Das einzig Gute an der Epidemie ist, dass sie die monumentale Ungerechtigkeit der amerikanischen Gesellschaft, und allgemein des Kapitalismus und Etatismus, unübersehbar zu Tage treten lässt – auch für jene, die nichts davon wissen wollen.

Herzliche Grüße, Anatole

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Anatoles Brief im Original auf Englisch:

 

Thank you, all good friends at Graswurzelrevolution!

I have made it to my 83rd year. Who would believe that?

I am thankful that I remain in good health and productive. I take it day by day as old and dear friends – Dieter Gebauer paramount among them – pass away. Perhaps that is the most difficult: seeing those that have given meaning and context to your life leave you.

NY is in a bad way. Aside from the death all around you, it is most painful to see one of the great cities of the world brought to its knees.

The heroism of the common people, working class people, those most likely to fall victim, is what is saving the city: The nurses, ambulance drivers, cleaners of infected rooms, technicians, emergency doctors, supermarket checkout girls, firemen, yes police, subway trainmen, food deliverers. And many thousands of retired medical people returning to do the dangerous work of treating highly infectious patients. All it takes is one of them to breathe on you! Think of that: a lady in her seventies, herself at risk, returns to help others under circumstances such as these. The hospitals have run out of room for the dead. They are being stored in refrigerated trucks in the street.

The one good virtue of the epidemic is that it exposes for all who do not care to see the monumental injustice of American society and capitalism and Statism in general.

Warmly, Anatole