Die Politikbedürftigkeit des Schwangerwerdenkönnens

Ein neues Gravitationszentrum der politischen Ordnung

| Kerstin Wilhelms

Antje Schrupp: Schwanger werden können. Essay über Körper, Geschlecht und Politik. Ulrike Helmer Verlag, Roßdorf b. Darmstadt 2019, 192 Seiten, 17,00 Euro, ISBN 978-3-89741-435-8

Bei der Reproduktion gibt es scheinbar nur zwei wesentliche Momente: Die Zeugung und die Geburt. Die ganze Zeit dazwischen, die Schwangerschaft, sowie die Möglichkeitsbedingungen dafür scheinen Privatsache zu sein. „Aus dem politischen Diskurs ist Schwangerwerdenkönnen […] fast vollständig ausgeschlossen“, so Antje Schrupp in ihrem aktuellen Essay. (S. 10.) Dabei ist die „Politikbedürftigkeit des Schwangerwerdenkönnens“ (S. 13) offensichtlich: Über die Möglichkeit, schwanger werden zu können, verfügt nur etwa die Hälfte aller Menschen. „Man kann nicht gleichzeitig ein Mensch sein, der schwanger werden kann, und einer, der nicht schwanger werden kann.“ (S. 40) Das stellt unseren Gleichheitsdiskurs vor massive Probleme, denn während Schwangere enorme gesellschaftliche Nachteile aushalten müssen, diskutieren diejenigen, die nicht schwanger werden können, über ihre Rechte gegenüber dem Fötus und dem Kind. Das Schwangerwerdenkönnen wird in Schrupps Essay zum Gravitationszentrum der politischen Ordnung und der Ausgestaltung unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens, denn sie erkennt in dieser Differenz eine fundamentale soziale Kluft: „Darüber, wie wir mit dieser Ungleichheit unter uns Menschen umgehen wollen, müssen wir diskutieren.“ (S. 14)

Zentrale Frage des Politischen

Antje Schrupp macht es sich also zur Aufgabe, das diskursive Vakuum zu füllen, indem sie die Schwangerschaft und die Möglichkeit, schwanger zu werden, auf die politische Bühne hebt. Aus der „Nebensache“ (S. 16) des Schwangerwerdenkönnens macht sie in den einleitenden Passagen eine zentrale Frage des Politischen. Dabei liefert der Essay einen Parforceritt durch die mit der Frage nach dem Schwangerwerdenkönnen verbundenen Themenfelder des Politischen: Das Verhältnis von Geschlecht und Weiblichkeit zu Schwangerschaft und Schwangerwerdenkönnen, die historische Veränderung der symbolischen Darstellung des Schwangerwerdenkönnens sowie auch dessen körperliche und soziale Voraussetzungen werden ebenso thematisiert wie die Möglichkeiten der Erweiterung des Zugangs zur Schwangerschaft durch die Reproduktionsmedizin und die Utopie der Reproduktion außerhalb des menschlichen Körpers. Auch das 
Problem der Transfeindlichkeit in der Debatte um Schwangerschaft wird angesprochen, ebenso wie die Schwierigkeit, hier eine gute Position zu finden, die anerkennt, dass auch trans Männer vor den sozialen Herausforderungen des Schwangerwerdenkönnens stehen, aber gleichzeitig herausstellt, dass die gesellschaft
lichen Zustände, in denen sich Schwangere befinden, auch deshalb so sind wie sie sind, weil die überwältigende Mehrheit dieser Personen eben Frauen sind.

Unterschiedliche Beziehungsgeflechte

Es werden den Lesenden also zunächst recht viele Bäume und ziemlich wenig Wald präsentiert, was sich aber im Laufe des Textes etwas lichtet. In neun Kapiteln werden zentrale Felder und Thematiken des Schwangerwerdenkönnens in den Blick genommen und deren politische Implikationen aufgezeigt. Dabei werden viele interessante Aspekte genannt, wie z. B. das paradoxe Verhältnis der schwangeren Person zum ungeborenen Kind, das nicht als ein Verhältnis zweier unabhängiger Individuen, aber auch nicht als ein Individuum mit einem irgendwie gearteten Geschwulst im Bauch gedacht werden kann. Aus der Perspektive einer männlich geprägten Subjektphilosophie ist das eine unmögliche Denkfigur. Es geht aber auch ganz konkret um Handlungsmacht, die bei Schwangeren sicherlich weniger ausgeprägt ist als bei der nicht-schwangeren Person, die aber an der Zeugung des Kindes beteiligt war. Es geht um die Konstruktion von Geschlechtern, von zwischenmenschlichen Beziehungen und um den Zugriff des Staats auf den schwangeren Körper z. B. im Abtreibungsrecht. Im Zentrum dieser weitreichenden Ausführungen steht dabei immer der Unterschied von reproduktionsfähigem und nicht-reproduktionsfähigem Körper. Der Essay zeigt, wie fundamental diese Unterscheidung für unser Zusammenleben ist und wie erstaunlich es ist, dass wir ihr so wenig Aufmerksamkeit zukommen lassen.

Neues feministisches Kernthema

Während der Text gelegentlich die für Lesende etwas anstrengende Tendenz entwickelt, verschiedene historische Stationen, aktuelle Debatten und philosophische Überlegungen zu verknüpfen, wird er dort richtig stark, wo die Autorin pointiert die Ergebnisse dieser Gedankengänge formuliert. „Der biologische Unterschied ist real, aber was für Auswirkungen er hat, entscheidet sich auch daran, wie wir das Schwangerwerdenkönnen sozial organisieren“ (S. 39). Was so klar klingt, ist, wie Antje Schrupp deutlich zeigt, absolut keine Selbstverständlichkeit. Sie weist darauf hin, dass in unserer Gesellschaft Ungleichheit grundsätzlich konflikthaft als Verhältnis von Norm und Abweichung gestaltet ist und als bedrohlich empfunden wird. Dass man Ungleichheit aber auch als „unverzichtbare Voraussetzung für Austausch, Fruchtbarkeit, Fortschritt“ (S. 29) auffassen kann, ist ein kluger Gedanke. Hier überschreitet nämlich der Essay seine engere Thematik und es wird deutlich, dass es beim Schwangerwerdenkönnen um das Politische per se geht. Schwangerwerdenkönnen als Politikum aufzufassen, legt quasi den Finger in die Wunde des Politischen, das Ungleichheit immer als Konflikt formuliert und nur „unter Gleichen“ seine symbolische Ordnung findet (S. 29). Die Möglichkeit, schwanger zu werden, implantiert aber einen fundamentalen, körperlich verfassten Unterschied in die Organisation der Menschheit, den wir nicht wegdiskutieren können, aber mit dem wir umgehen müssen. Wir müssen eine soziale Ordnung finden, die die Ungleichheit einberechnet, ohne sie als Devianz, als Abweichung und als Unterordnung zu begreifen. Und das ist die Forderung dieses Essays, der mehr darauf gerichtet ist, die Fragen zu stellen, die Probleme aufzuzeigen und die verschiedenen Themen und Felder zu erörtern, an denen sich die Ungleichheit zeigt, als darauf, Antworten zu liefern. Die Autorin vermittelt aber überzeugend die Einsicht, dass wir nicht als reiner Geist oder als reine Stimme die Bühne des Politischen betreten, sondern als körperlich verfasste Existenzen und dass dieser körperlichen Verfasstheit eine Ungleichheit eigen ist, die zu gestalten ein neues Kernthema feministischer Politik werden sollte.