Ein Tag im Jahr 2048

Die Menschheit wird fürsorglicher oder sie wird nicht mehr sein

| Elisabeth Voß

Wie könnte naturnahes, selbstorganisiertes Zusammenleben, das eine sozial-ökologische Grundversorgung für alle garantiert, aussehen? Welche Rolle werden dabei Arbeit und Entlohnung spielen? Wie geht man mit Konflikten um? Was bedeutet solidarwirtschaftliches und fürsorgliches Handeln für die (globale) Gemeinschaft? In ihrem spannenden Beitrag für die Graswurzelrevolution gibt Elisabeth Voß Einblicke in ihr Alltagsleben im Jahr 2048. (GWR-Red.)

Ich wache auf, weil die Sonne durch die dünnen Vorhänge in mein Schlafzimmerfenster scheint. Wie fast jeden Morgen freue ich mich, dass ich mir vor 25 Jahren endlich meinen langgehegten Wunsch erfüllt habe und aufs Land gezogen bin. Ich setze Kaffeewasser auf und öffne die Tür zum Garten. Morgens ist es hier noch ruhig, nur die Vögel zwitschern. Mir gehen ein paar Sätze für meinen Artikel für die Graswurzelrevolution durch den Kopf, während ich den zapatistischen Soli-Kaffee aufgieße.
Den Kaffee hole ich mir, so wie fast alles andere, was ich brauche, aus unserem Genossenschaftsladen. Anfangs funktionierte der wie eine Food Coop, wir haben gemeinsam bestellt, die Sachen aufgeteilt und abgerechnet. Wie mühsam und wie sinnlos. Aber es war ein längerer Diskussionsprozess, bis alle eingesehen hatten, dass sowieso keine*r unbegrenzte Mengen essen und trinken kann – wozu dann abrechnen?
Wir leben hier mit knapp 100 Leuten in Brandenburg in einem denkmalgeschützten Hofensemble und einer benachbarten Wagenburg. Mittlerweile haben wir die Geldwirtschaft untereinander gänzlich abgeschafft. Den zapatistischen Genoss*innen zahlen wir für den Kaffee selbstverständlich weit mehr als den Weltmarktpreis. Die solidarisch eingekauften Produkte bieten wir Gästen und Nachbarschaft auch in unserem Hofladen an. Um 10 Uhr habe ich Ladendienst, bis zum Mittagessen, das unser veganes Restaurant zubereitet.

Mit und ohne Lohnarbeit

Lohnarbeit gibt es in unseren Genossenschaftsbetrieben kaum noch. Wir Mitglieder teilen die notwendigen Arbeiten danach auf, wer etwas am besten kann und gerne machen möchte. Alle arbeiten so viel, wie sie möchten. Es gibt auch Beschäftigte, die nicht bei uns wohnen. Die können sich aussuchen, ob sie einen guten Lohn bekommen oder unserer gemeinsamen Ökonomie beitreten möchten.
Ich arbeite noch manchmal freiberuflich, obwohl ich ja Rentnerin bin. Auch andere sind selbstständig oder sind „draußen“ angestellt, wo sie mit ihren Vorgesetzten um Löhne verhandeln müssen, sofern sie nicht in einem Kollektivbetrieb arbeiten, in dem sie gleichberechtigte Mitinhaber*innen sind. Aber die Betriebe in unserer Gegend können sich keine üble Ausbeutung oder Repression mehr leisten, sie würden sofort bestreikt. Vor allem die Agrarbetriebe – mittlerweile deutlich verkleinert, auf Bioanbau, Fruchtfolgen und extensive Flächenbewirtschaftung umgestellt – sind auf uns und unsere Mitarbeit bei Ernteeinsätzen angewiesen.
Jedes Jahr kommen rumänische Saisonarbeiter (überwiegend männlich) in unsere Region. Sie bekommen den gleichen Lohn wie wir. Gemeinsam mit einer Basisgewerkschaft haben wir ein Meldesystem für Aushilfen aller Branchen eingerichtet, so dass wir bei Unzufriedenheiten über Arbeitsbedingungen oder über die Bezahlung sofort reagieren können. Die Erntehelfer wohnen größtenteils in unserer Feriensiedlung, manche bringen ihre Angehörigen mit. Die Erwachsenen, die nicht aufs Feld gehen (überwiegend Frauen), arbeiten dann für die Erntezeit in unserer Pflegegenossenschaft, so dass andere Pfleger*innen in dieser Zeit Urlaub nehmen können, oder sie verstärken die Schichten in der benachbarten Kita, in der für die Zeit ihres Aufenthalts auch ihre Kinder betreut werden. Das hat sich über die Jahre gut eingespielt.
Letzte Woche war es wieder so weit, und es gab ein großes Hallo und eine große Freude, sich nach langer Zeit wieder zu sehen. Über die Jahre sind Freundschaften entstanden, wir verbringen viel Zeit miteinander und zum Abschied gibt es jedes Mal ein großes Fest. Manche von uns fahren im Urlaub nach Rumänien und besuchen ihre Freund*innen, einige von ihnen sind auch mit ihren Familien zu uns gezogen und arbeiten fest in unseren Betrieben oder in der Umgebung.
Wir sind eine Open-Borders-Region und können ganz unbürokratisch Menschen aus aller Welt aufnehmen. Manche haben einfach Lust mit uns zu leben, andere mussten ihre Länder verlassen, weil es dort immer noch Kriege oder Umweltkatastrophen gibt. Das ist zwar weniger geworden, aber noch lange nicht gut. In unserer Regionalverfassung haben wie die globale Solidarität als obersten Grundsatz verankert, das heißt, dass wir uns bei allen Entscheidungen fragen, welche Auswirkungen sie auf Menschen anderswo haben.

Sozialökologische Modellregion

Vor fast 20 Jahren haben wir erkämpft, dass diese Gegend zur selbstverwalteten sozial-ökologischen Modellregion wurde. Heute sind wir eine von unzähligen Regionen europaweit, die nach dem großen Umbruch aus dem Wiederaufbaufonds finanziert wurde. Mittlerweile brauchen wir keine Förderung mehr, sondern können uns weitgehend selbst versorgen. Geld spielt nur noch eine untergeordnete Rolle und ich denke, dass es eines Tages verschwinden wird. Was früher nur vereinzelt beispielsweise im Wendland oder in Nordhessen versucht wurde, wo Netzwerke von Projekten und Kommunen solidarwirtschaftliche Beziehungen aufgebaut hatten, ist jetzt weit verbreitet und nichts Besonderes mehr. Allein in unserer Region gibt es etwa 50 ähnliche Projekte wie unseres.
Zur Unterstützung der Ansiedlung in den Modellregionen gab es Wettbewerbe für naturnahes Bauen für ein Leben in und mit der Natur. Die Grenzen zwischen Siedlungen und Naturräumen sind fließend geworden. Großstädte sind geschrumpft, Gebäude aus Beton stehen als Warnmale unter Denkmalschutz, und heute käme keine*r mehr auf die Idee, Hochhäuser zu bauen.

Grundversorgung für alle

Nach dem Mittagessen gehe ich zur öffentlichen Ratssitzung unseres Energieversorgers. Auf der Tagesordnung steht eine Neuaufteilung der Kriterien für die Zuteilung von Sonderrationen für Strom und Wärme. Seit dem großen Umbruch gibt es Energie kostenlos – so wie die gesamte Grundversorgung – aber sie ist streng rationiert. Jede Region bekommt ein Kontingent, das möglichst selbst produziert werden soll. Überschüsse gehen ins nächsthöhere Netz, aus dem auch Defizite ausgeglichen werden. Die Regionen bewirtschaften ihre Kontingente selbst.
Mit dem Netzwerk der Gemeinschaftssiedlungen haben wir einen Vorschlag eingereicht, dass unsere Mitglieder eventuelle Mehrbedarfe – zum Beispiel zum Aufladen ihres Elektrorollstuhls oder weil sie zuhause arbeiten – nicht mehr individuell begründen müssen, sondern dass wir eigene Sonderbedarfskontingente bekommen, über die wir autonom untereinander entscheiden. Unsere Delegierte im Rat begründet den Antrag und er wird angenommen, weil er der Erweiterung der Subsidiarität (1) dient.
Zur kostenlosen Grundversorgung durch demokratisch geführte öffentliche Unternehmen gehören auch Wasser und Abwasser. Nach dem Umbruch wurden die zentralistischen Zweckverbände aufgelöst. Regionale Wasserräte koordinieren die weitgehende Selbstversorgung und naturnahe Entsorgung. In unserem Dorf haben wir eine eigene Pumpstation und eine Klärwerksgenossenschaft, die auch unsere gemeinschaftliche Pflanzenkläranlage betreibt. Zeitweilig war das Wasser rationiert, aber das ist nun nicht mehr nötig.
Die Gesundheitsversorgung wurde ebenfalls dezentralisiert, und es gibt jetzt auch hier auf dem Land genug Polikliniken und Pflegeeinrichtungen, die Nutzer*innen und Angehörige gemeinsam mit den Beschäftigten selbst verwalten. Bus- und Bahnfahrten bis 500 Kilometer sind kostenlos. Bis spät nachts halten bei uns, und in vielen kleinen Orten auf der Strecke, mindestens jede Stunde die Züge zwischen Berlin und Stralsund, so dass es problemlos möglich ist, Abendveranstaltungen in anderen Orten zu besuchen und anschließend nach Hause zu fahren. Für weitere Reisen gibt es ein Jahresmobilitätskonto, das nur Vielfliegen merklich eingeschränkt hat. Das Bahnnetz wurde auch international ausgebaut und längere Reisen, die viele sich früher gar nicht leisten konnten, sind jetzt so günstig, dass wer möchte sogar mehrmals im Jahr wegfahren kann.
Für diejenigen, die nicht arbeiten können oder wollen, gibt es ein geringes Grundeinkommen, das bedingungslos und ohne weitere Überprüfungen an diejenigen ausbezahlt wird, die versichern, über gar kein oder kein ausreichendes Einkommen zu verfügen. Alle drei Monate fragt das Grundsicherungsamt nach, ob der Bedarf weiterhin besteht. Das Geld reicht aus, denn vieles was mensch zum Leben braucht, gibt es ja nun kostenlos. Mieten müssen erst ab Wohnraum über 30 Quadratmeter pro Person bezahlt werden, und es gibt nur noch wenige Geschäfte mit käuflichen Produkten.

Es sind die Menschen …

Heute Abend werde ich in einer benachbarten Gemeinschaft ein Emo-Plenum moderieren. Das ist ein Plenum, auf dem es ausschließlich um die persönlichen, emotionalen Belange geht. Eigentlich ist das mindestens ebenso wichtig wie all die organisatorischen, baulichen, finanziellen und politisch-inhaltlichen Fragen des Zusammenlebens. Darum treffen sich manche Gruppen ebenso häufig zum Emo-Plenum wie für alles andere. In dieser Gemeinschaft hatten das jedoch viele bisher für nicht nötig befunden, hielten es für Zeitverschwendung.
Kürzlich berichtete mir eine junge Nachbarin, dass ein paar ältere Männer beim Plenum immer wieder Frauen, vor allem jüngere, unterbrechen oder deren Vorschläge abfällig beiseite wischen würden. Seit einer der Gründer vor ein paar Monaten gestorben ist, wurde es immer schlimmer. Offensichtlich hatte er einen mäßigenden Einfluss auf seine Geschlechts- und Altersgenossen gehabt. Ich ermutigte meine Nachbarin, ein Emo-Plenum einzuberufen, und habe angeboten, es zu moderieren.
In unserer Gemeinschaft bemühen wir uns mittlerweile um einen offensiven Umgang mit Konflikten. Wenn es gar nicht mehr geht, können wir auch Leute wegschicken. Es kann zwar keine*r aus unserer Genossenschaft ausgeschlossen werden und alle haben ein lebenslanges Wohnrecht, aber wer die Gemeinschaft beeinträchtigt, muss den Hof verlassen und bekommt eine unserer Wohnungen im Dorf. Manche nähern sich danach wieder an, andere gehen ganz weg.
Aber erstmal packe ich, denn morgen früh fahre ich mit dem Zug nach Katalonien und besuche eine Permakulturfarm, mit der wir schon lange vernetzt sind und Produkte tauschen. Anschließend geht es weiter ins befreite Andalusien, wo die Landarbeiter*innen-Gewerkschaft nach der Zerstörung der Plastikmeere eine kleinbäuerliche Landwirtschaft aufgebaut hat. Dort haben die Interbrigadas gemeinsam mit kurdischen Frauengruppen ein transnationales Treffen vorbereitet, und ich freue mich besonders darauf, die zapatistischen Freund*innen aus Chiapas wiederzutreffen, die schon mit einem Zeppelin angereist sind. Auf der Rückreise werde ich meine Freundin in einer Longo-Mai-Kooperative in der Provence besuchen, aber nur für ein paar Tage, denn bald haben wir unsere große jährliche Regionalversammlung, die ich nicht verpassen möchte und zu deren Vorbereitung ich auch schon ein paar Ideen habe.

Wie es dazu kam: Der große Umbruch

Hinter der Corona-Krise der 20er Jahre schien die weit bedrohlichere Klimakatastrophe aus dem Blick zu geraten. Dann kam die Unwetterkatastrophe mit Hunderten Toten in Deutschland. Weltweit nahmen Überschwemmungen und Brände, Industrieunfälle und Terroranschläge dramatisch zu. Die Toten waren nicht mehr die „Anderen“, sondern die eigenen Angehörigen und Freund*innen. Erst da wachten die meisten Leute auf, ließen es zu, ihre Verletzlichkeit zu spüren und glaubten den Reichen und Mächtigen ihre schönen Worte nicht mehr.
Die Vereinten Nationen befreiten sich endlich aus dem Klammergriff der Konzerne, die Europäische Kommission setzte ihren bisherigen Nachhaltigkeitsberater, den Finanzinvestor BlackRock, vor die Tür. Innerhalb kürzester Zeit wurden global und auch in den meisten Ländern Gesetze eingeführt und durchgesetzt, die der Versorgung von Allen dienten, statt die Stärkeren systematisch zu bevorzugen. Illegitime Vermögensmassen wie Konzerne, Finanzinvestoren oder große Stiftungen wurden aufgelöst, die Börsen geschlossen. Rohstoffe und Energie wurden kontingentiert, die Herstellung von Agrargiften und chemischen Düngemitteln verboten und die gesamte Konsumgüterproduktion weltweit heruntergefahren.
Auch die Umstrukturierung der Landwirtschaft ist eine der Folgen aus den großen Katastrophen. Die vermeintlich segensreiche Digitalisierung wurde weitgehend dezentralisiert und regionale Netze als Hilfsmittel und Ergänzung für Räteversammlungen aufgebaut. Das weltweite Internet ist sehr schlank geworden und wird vom Globalrat bewirtschaftet. Die allgemeine Demokratisierung von Wirtschaft und Gesellschaft findet ihren Ausdruck auch in konvivialen Technologien (2), die so niedrigschwellig wie möglich funktionieren. Das Wichtigste ist jedoch der kulturelle Wandel, weg von High-Tech-Macht- und Machbarkeitsphantasien hin zu einer fürsorglichen und wertschätzenden Haltung gegenüber Mensch und Natur.

(1) „Subsidiarität“ bedeutet, dass Entscheidungen von denjenigen getroffen und umgesetzt werden, die direkt von ihnen betroffen sind, sofern sie dazu in der Lage sind.
(2) Das Konzept der „konvivialen Technologien“ stammt von dem Sozialphilosophen Ivan Illich. Konvivial bedeutet lebensfreundlich, also nicht naturzerstörend oder menschenschädigend, für Anwender*innen zugänglich, angenehm und durchschaubar.

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