Gegen die „Verkriegung“ sozialer Bewegungen!

Beiträge zu Anarchismus und Gewaltfreiheit

| Horst Blume

Arbeitsgruppe Anarchismus und Gewaltfreiheit (Hg.): Je mehr Gewalt, desto weniger Revolution. Texte zum gewaltfreien Anarchismus & anarchistischen Pazifismus. Band 2, Verlag Graswurzelrevolu-tion, Heidelberg 2021, 202 Seiten, 16,90 Euro, ISBN 978-3-939045-41-0

Oft reagieren Menschen mit Erstaunen und Verwunderung auf unsere Aussage, dass es eine Grundidee des Anarchismus ist, die Anwendung von Gewalt abzulehnen. Allerdings gibt es im Anarchismus unterschiedliche Strömungen, von denen sich einige nicht auf gewaltfreies Handeln festlegen wollen. Dies ist Grund genug für die HerausgeberInnen von Band 2 von „Je mehr Gewalt, desto weniger Revolution“, die Auseinandersetzung mit ihnen zu suchen, ihr Politikverständnis zu kritisieren sowie historische und aktuell praktizierte gewaltfreie Alternativen vorzustellen und zu empfehlen.
Rolf Cantzen macht in dem Buch den Anfang mit seiner Kritik an Michail Bakunin (1814–1876), dem wahrscheinlich bekanntesten Anarchisten. Er kritisiert nicht nur seine Konspirationsphantasien und sein oft destruktives Verhalten, sondern wirft ihm Befürwortung individueller Terrorakte vor. Cantzen betont, dass im Gegensatz zu Bakunin die Mehrheit der AnarchistInnen der Meinung ist, dass die angewandten Mittel nicht im Widerspruch zu den angestrebten Zielen stehen dürfen. Cantzen verweist auf wichtige historische VertreterInnen des Anarchismus, die Bakunins Gewaltpathos ablehnten und für den Übergang in eine freiheitliche Gesellschaft die Anwendung von konstruktiven Politikelementen für unverzichtbar hielten.
Mit einer fulminanten Kritik des in bestimmten Kleingruppen vielzitierten Gewaltbefürworters Peter Gelderloos geht in einem längeren Beitrag Sebastian Kalicha in die Offensive und zeigt deutlich auf, dass eine selektive und verzerrte Darstellung der Gewaltfreiheit unweigerlich zu falschen Schlussfolgerungen führt. Gelderloos knüpft bei seiner Diffamierung an die längst widerlegte Vorstellung an, dass gewaltfreie AktivistInnen lediglich symbolisch und legalistisch agieren und von einem bürgerlich-reformistischen Gesellschaftsverständnis ausgehen würden.
Dabei beinhaltet gewaltfreies Handeln das genaue Gegenteil von passivem Erdulden und konfliktscheuem Nachgeben: „In der gewaltfreien Aktionstheorie gibt es Eskalationsstufen, keine Deeskalationsstufen“. Ein bei Grünen oder SozialdemokratInnen anzutreffendes tatsächlich legalistisches Verständnis von Gewaltfreiheit wird von Gelderloos mit den staats- und herrschaftskritischen Inhalten anarchistisch geprägter Gruppen vermengt, um beide zusammen an den Pranger stellen zu können. Kalicha weist darauf hin, dass wir in der Graswurzelrevolution auch die Geschichte der anarchistischen Bewegung kritisch reflektieren und die Gewalt
exzesse von CNT-Mitgliedern während des spanischen Bürgerkriegs oder der Machnoarmee in der Ukraine strikt ablehnen.
In einem weiteren Beitrag berichtet Kalicha über die merkwürdige Zerrissenheit des italienischen Anarchisten Errico Malatesta (1853-1932) in der Gewaltfrage, die wahrscheinlich die Stimmungslage so mancher Menschen in ihrem Kampf für ihre Rechte widerspiegelt. Malatesta schwankte sein ganzes Leben lang zwischen den beiden gegensätzlichen Polen Gewalt und Gewaltfreiheit. Obwohl er kein gewaltfreier Anarchist war, betonte er jedoch, dass die Anwendung von Gewalt immer destruktive Konsequenzen hat und eine Eigendynamik entfaltet, welche die ursprünglichen Ziele konterkariert. Dies ist ein Aspekt, den sich auch Menschen vergegenwärtigen sollten, die nicht unbedingt zu den glühendsten AnhängerInnen der Gewaltfreiheit gehören.
Wie schnell aus dem Bedürfnis nach Veränderung durch den Einsatz vermeintlich effektiverer Organisations- und Kampfformen das genaue Gegenteil bewirkt wird, zeigt S. Münster in dem Beitrag „Revolution – gegen die Gewalt“: „Der Geist der Utopie erstarrte in parteipolitischer Demagogie, in paramilitärischen Aufzügen, in Spaltungen der Arbeiterorganisationen, gewalttätigen Polarisierungen innerhalb sozialistischer Gruppen“.
Dass sich eine auf gewaltfreien Aktionsformen beruhende proletarische Massenbewegung entwickeln kann, zeigt Sarah Moor in ihrem Beitrag „Zur Geschichte des Anarchopazifismus“. Sie stellt dem von der Realität längst eingeholten scheinbaren Antimilitarismus der SozialdemokratInnen die Politik der anarchistisch orientierten „Freien Arbeiter-Union Deutschlands“ (FAUD) nach dem 1. Weltkrieg gegenüber, die auf zivile direkte Kampfformen bis hin zum Generalstreik setzte.

Impulsgeberin WRI

Um dieses Thema zu vertiefen, veröffentlichen die HerausgeberInnen dieses Bandes einen Diskussionsbeitrag zum „Manifest für eine gewaltfreie Revolution“, das im Jahr 1972 auf der 14. Dreijahreskonferenz der War Resistersʼ International (WRI) vorgelegt wurde und die antiautoritären Impulse der 68er-Bewegung aufnimmt.
Hier wird die Notwendigkeit betont, bei der politischen Arbeit die angestrebten Ziele vorwegzunehmen, indem antiautoritäre Organisationsformen und Verhaltensweisen praktiziert werden. Die Friedensbewegung sollte nicht in einer kurzsichtigen Organisierung von Kriegsdienstverweigerern („KDV-Gewerkschaft“) stecken bleiben, sondern ebenfalls Alternativen zum Kapitalismus vorleben und aufbauen. Schon 1972 hatten die AktivistInnen auf internationaler Ebene nicht nur den Vietnamkrieg, sondern auch Umweltschutz auf dem Schirm: „Was habt Ihr getan? Ihr wusstet doch Bescheid! Resolutionen? Warum habt Ihr nicht die Straßen aufgerissen gegen das Autochaos, warum habt Ihr nicht die Kaufhäuser besetzt und die Güter frei verteilt. Warum habt Ihr nicht die Arbeitszeit verkürzt? Wäret Ihr doch nach fünf Stunden nach Hause gegangen! Wie konntet Ihr so naiv sein, SPD zu wählen, fünf Minuten vor zwölf.“
Ähnliche Gedanken gingen mir etwas später ebenfalls durch den Kopf, denn ich bin 1972 als Siebzehnjähriger in die SPD eingetreten, lernte jedoch in einem dreijährigen Schnelldurchgang über die DFG/VK die WRI und die Gewaltfreien Aktionsgruppen kennen und wurde Mitgründer der Bürgerinitiativen gegen Atomkraft auf lokaler Ebene.
Großen Eindruck machten bei mir die gewaltfreien Aktionen gegen das geplante Atomkraftwerk in Seabrook in den USA in den 70er-Jahren, die vom Movement for a New Society (MNS) mitgegründet wurden (1). George Lakey und Betsy Raasch-Gilman berichten in ihrem Beitrag über ihre Versuche, den sozialen Wandel durch die Abkehr von hierarchischer Organisierung zu befördern und mit diesen neuen Strukturen Massenbewegungen zu durchdringen. Hierzu war es notwendig, selbst viel zu lernen und neue Ideen zu entwickeln. Nach den Aktionen gegen das AKW Seabrook wurden die AktivistInnen teilweise verhaftet und in fünf verschiedenen Kasernen zwei Wochen lang festgehalten. Dort führten sie in den jeweiligen Bezugsgruppen Workshops und gewaltfreie Trainings durch, sodass das Wissen hierüber später an viele andere Orte weitergetragen werden konnte.
Tiefgreifende Gedanken machten sich die Mitglieder des MNS, wie Parallelinstitutionen aufgebaut werden könnten, um bei ihrem Kampf für revolutionäre Reformen kein Machtvakuum entstehen zu lassen. Etwas unbefriedigend sind die spärlichen Angaben in dem Beitrag, warum sich das MNS nach seinen Erfolgen 1984 aufgelöst hat. Als Manko wurde empfunden, dass die Mitglieder ausschließlich Weiße waren und keine People of Color zur Mitarbeit gewonnen werden konnten. Durch das Bemühen, gegen das gesamte Spektrum an Unterdrückungsformen etwas zu tun, bestand die Gefahr, sich „dabei selbst verrückt“ zu machen.
Mit fünfzig Seiten ist der facettenreiche Beitrag von S. Münster über die von 1919 bis 1925 erschienene Zeitschrift „Die schaffende Frau“ recht umfangreich und bietet Einblicke in ein bisher wenig beachtetes Thema. Dieses Blatt war zwar einerseits pluralistisch orientiert, bezog aber oft für einen antiautoritären Sozialismus Position. Der „Syndikalistische Frauenbund“ innerhalb der FAUD unterstützte die Herausgabe, musste sich aber mit verschiedenen Vorwürfen dieser stark männerdominierten Organisation auseinandersetzen. Die Herausgeberin von „Die schaffende Frau“, Aimee Köster, wollte den meisten Frauenzeitschriften, in denen, wie sie sagte, „besonders begabte Kriegshetzerinnen“ schrieben, eine Alternative entgegensetzen und beschäftigte sich unter anderem mit Themen wie Männlichkeit und Gewalt, ohne dabei auf beigelegte Schnittmusterbögen für Kleider zu verzichten.

In diesem Band 2 von „Je mehr Gewalt, desto weniger Revolution“ wird ein vielfältiger Themen-Mix geboten, in dem schwerpunktmäßig das Spannungsfeld zwischen gewaltfreiem Anarchismus und GewaltbefürworterInnen beleuchtet wird und wichtige Anregungen für die zukünftige Praxis gegeben werden.

(1) Siehe dazu auch den vierseitigen Artikel „Die Besetzung von Seabrook: Erst der Bauplatz – dann das Zeughaus“ in GWR Nr. 30-31, Sommer 1977. Und: „Seabrook: Die Zeit ist reif“ in GWR Nr. 44, Oktober/November 1979.