Die Rache der „Loser“

Über Incels und deren Ideologie

| Isidore Beautrelet

Während der Pandemie hat sich die Incel-Szene, vor allem online, weiter gefestigt. Wer sind eigentlich Incels, und welche Ziele verfolgen sie? Die Charakteristik der Szene und ihre Ideologie analysiert für die Graswurzelrevolution Isidore Beautrelet. (GWR-Red.)

Niemand hatte sich die Corona-Pandemie 2019ff. bestellt, und alle möglichen gesellschaftlichen Interessen haben unter der politischen Bewältigung Schaden genommen. Dabei haben viele Staaten die Bewältigung der Pandemie auch ihren Bevölkerungen zur Aufgabe und zum Problem gemacht: Per Kontaktbeschränkungen im Freizeitleben sollte die Ausbreitung des Covid-19-Virus beschränkt werden.
Während darunter eigentlich jede*r Einzelne auf die eine oder andere Art und Weise gelitten hat, wurden ausgerechnet harte Maßnahmen wie Lockdowns auf Foren wie Reddit oder 4chan von sog. Incels begrüßt: In für diese Szene typischem Zynismus wurde die Pandemie etwa als „St. Coranavirus“ gepriesen, da er nun auch alle anderen in der Gesellschaft in die Lage brächte, in der sich Incels ohnehin befänden: sozial isoliert, für soziale Aufmerksamkeit auf die Online-Welt verwiesen. Mit Genugtuung wurde dort genossen, dass mit den Kontaktbeschränkungen Gelegenheitssex für „Stacys“ und „Chads“ (abwertende Begriffe für als attraktiv geltende und sexuell aktive Personen weiblichen und männlichen Geschlechts) und promiskuitiver Lebensstil nun ein Ende hätten. Diese aus Sozialneid geborene Häme (1) verweist auf ein beleidigtes Bewusstsein eines sozial Zukurzgekommenen: Was Incels sonst permanent „verwehrt“ bliebe, könnten nun also alle anderen auch nicht mehr „haben“. Manche Incels – darüber ist diese Community überhaupt erst bekannt geworden – haben dieses „Unrechtsgefühl“ zum Anlass für frauenfeindliche Amokläufe genommen, mit denen sie sich rächen und anderen ein Vorbild sein wollten. Angesichts dessen, dass sich während der Pandemie auch diese Szene online weiter gefestigt hat, soll mit dem folgenden Text die falsche Logik der Weltanschauung der Incel-Szene dargestellt werden. Damit soll nicht für Verständnis, sondern für Kritik geworben werden, bei der sich auch zeigen wird, an wie viele gesellschaftlich leider sehr verbreitete Vorstellungen und Maßstäbe die frauenfeindliche Ideenwelt der Incels und ihre z. T. mörderischen Konsequenzen anknüpfen können.

Sexlosigkeit als Unwert-Urteil

Der Name „Incels“ (engl. „Involuntary celibates“) gibt einerseits Auskunft über einen Umstand, der als Leiden empfunden wird: So genannte Incels (2) haben keinen Sex, wollen aber welchen. Zugleich drückt die selbst gewählte Bezeichnung auch eine Stellung der betreffenden Männer zu ihrem Leiden aus: Sie nehmen es für so existenziell, dass sie ihre ganze Person damit identifizieren. Am Maßstab „Sex haben“ oder „nicht haben“ sehen Incels nämlich die Menschen auseinandersortiert, an ihm entscheide sich, wer etwas in der Welt gelte und wer nur Verachtung erfahre. Sich selbst sehen und erleben sie demnach als von der Gesellschaft Ausgemusterte und Gedemütigte.
Dabei beziehen sich Incels auf den Umstand, dass Sex in der modernen bürgerlichen Gesellschaft so etwas wie einen Glücks- und Erfolgsmesser im privaten Wettbewerb um Anerkennung darstellt. In dieser Perspektive gilt er eben nicht nur als schöne Sache aneinander genossener und miteinander geteilter Lust, sondern als das Ideal eingelösten Glücks und zugleich als eine Art Leistungsauskunft über die Person:
Als Frage des Glücks soll Sex demnach für eine Art Totalbefriedigung sorgen, weswegen es auch so stark darauf ankommt, dass und wie man welchen hat. Einerseits wird so die Frage gegenseitiger Wertschätzung auf einen pur physischen Vorgang reduziert, andererseits wird dieser dann aber auch total überhöht, indem von ihm das generelle Gelingen von Leben und Partnerschaft abhängig gemacht wird. So – als Glücksgarant aufgefasst – zeigt sich die traurige Rolle, die Sexualität am Ende in unserer freien Welt spielt: Sie soll das Leben insgesamt irgendwie ins Positive bringen, also für die im Alltag offenbar anfallenden negativen Erfahrungen entschädigen, ohne dass gegen deren Gründe vorgegangen wird.
Als Frage des Erfolgs soll Sex zur Selbstbestätigung und Selbstdarstellung taugen: Sich selbst und Sexualpartner*innen sexuelle Befriedigung zu verschaffen, wird zur Leistungsanforderung, an deren Erfüllung sich die eigene ständig unter Beweis zu stellende Attraktivität bestätige und an deren schierer Menge sich die eigene Potenz zeige. So gilt Sex-Haben als ein Art Ausweis, ein zu eigenem Erfolg fähiger Mensch zu sein. Deswegen wird Sex-Haben dann auch zu einer Frage des Selbstwerts – wie umgekehrt Keinen-Sex-Haben zum Ausdruck von Unattraktivität, Erfolglosigkeit und Unwert der Person wird.
Incels bemerken diesen Wettbewerb um Attraktivität, Sexual- und Beziehungspartner*innen und halten an ihm in erster Linie ihr schlechtes Abschneiden in ihm fest. So nehmen sie – wie ja viele andere auch – ihr relatives Abschneiden auf diesem Feld der Anerkennungssuche als Auskunft über ihre Person. Und wo Sex-Haben zu einer Frage des „Werts“ der Person geworden ist, wird daraus schließlich auch – wenn der „Selbst-Wert“ wegen Sexlosigkeit als nicht vorhanden beurteilt wird – eine Existenzfrage: Ihr eigenes an gesellschaftlichen Maßstäben und Normen gebildetes Unwert-Urteil über sich selbst haben zumindest die bekannten Incel-Attentäter derart ernst genommen, dass sie ihre eigene unwürdige Existenz nicht mehr aushalten wollten und sich im Anschluss an ihre Taten das Leben genommen haben.

Incels bleiben nicht dabei, ihr „Unglück“ zu bedauern und sich für Versager zu halten. Sie betrachten den Umstand des „Fehlens“ von Sex und wofür er stehen soll nämlich als eine Art Rechtsbruch. Ihr (ideelles) Recht auf Glück, Beachtung und Respekt sehen sie verletzt, wenn sie die eigene Sexlosigkeit und ihr Singledasein betrachten. Mit dieser Einbildung, so etwas wie einen Anspruch auf Erfolg und Zufriedenheit zu haben, sind Incels nicht allein: Viele Menschen verwechseln die rechtliche Erlaubnis des bürgerlichen Staates, sich um den Erfolg der eigenen Interessen und Lebenspläne zu kümmern, mit einer Art Erfolgsversprechen und fühlen sich dann in der Regel von ihren Mitmenschen, Chef*innen oder der Politik betrogen, wenn sich Misserfolge einstellen – wofür die bürgerliche Welt mit ihrer allseitigen Konkurrenz in Beruf, Politik und Privatleben viele „Gelegenheiten“ bietet.
Dieses eingebildete Recht auf Kompensation sehen Incels nun vom weiblichen Geschlecht, dem ihr sexuelles Interesse gilt, missachtet.

Das Verbrechen der Frauen: Nicht-Beachtung

Von Frauen, von denen sie nicht beachtet werden, fühlen sich Incels nämlich aktiv zurückgewiesen. Aus einem Nicht-Verhältnis wird so ein bewusster Wille zur Ignoranz, der auf Zurückweisung und Degradierung des Gegenübers ziele.
Diese absurde Deutung zeugt davon, dass Incels nicht nur den Wunsch nach Kontakt zu bestimmten Personen des weiblichen Geschlechts haben, sondern sich einen allgemeinen Anspruch auf Beachtung durch Frauen einbilden. Denn: Nur insofern man ohnehin Frauen lediglich unter der Forderung wahrnimmt, dass sie für Männer da zu sein hätten, wird aus einem nicht bestehenden Verhältnis ein „Angriff“ und aus einer Abweisung eine „traumatisierende Grausamkeit“ (3). Aus dem Umstand, in keinem Zuneigungs- oder Sexualverhältnis mit einem Incel zu stehen bzw. stehen zu wollen, wird in der Incel-Perspektive eine Verweigerung, welche auf die demütigende Botschaft abziele, Incels als Versager zu stempeln.

Die zweifelhafte „Sexnatur“ der Frau und die biologische Sexwert-Hierarchie der Menschen

Die – in der Incel-Deutung – auf Demütigung zielenden Frauen, welche sich offenbar zu schade für Incels sind, aber gar nicht im Allgemeinen auf Sex verzichteten, werden allein schon deswegen, weil sie nicht mit Incels schlafen, der „Oberflächlichkeit“ und „Sexbesessenheit“ bezichtigt.
Diese moralischen Beschwerden gegen Frauen, die nicht tun, was sie sollen, bauen Incels zu einer richtigen „Theorie“ aus. Dabei lassen sie sich streng von der Frage leiten: Wie kann sein (Sexlosigkeit), was nicht sein darf (Sexlosigkeit)? Insofern fragen sie von vornherein nach Hinderungsgründen für das, worauf sie sich einen Anspruch einbilden. Diese Gründe sollen ihnen die „Notwendigkeit“ ihres Scheiterns plausibel machen.
Dabei überlegen sie sich die Sache so: Es herrsche unter Menschen wie unter Tieren ein „Wettbewerb“ um Sexualpartner*innen. Der wird sich biologistisch vorgestellt, nämlich als Frage von Reiz-Reaktions-Mechanismen (4). Zwar wird so betrachtet eigentlich der weibliche Wille zum Sex ganz herausgekürzt, dennoch wird Frauen der Vorwurf der Oberflächlichkeit gemacht. Incels beklagen weiter, dass Frauen lediglich darauf aus seien, möglichst viel Sex zu haben. Gleichzeitig wollen sie aber auch erkannt haben, dass die „Sexnatur“ der Frau nur durch ganz bestimmte Körpermerkmale reizbar sei: Einen speziellen Körperbau, Schädelform etc. präferiere der Sextrieb der Frau angeblich. So wird der doppelte Vorwurf gegen das weibliche Geschlecht erhoben, gleichzeitig sexbesessen bzw. zu oberflächlich und viel zu anspruchsvoll zu sein. Und um den Widerspruch komplett zu machen, wird Frauen zusätzlich zur Naturtriebhaftigkeit auch noch ganz viel Berechnung nachgesagt: Dann nämlich, wenn sich eine Frau mit einem nicht so attraktiven Mann „abgibt“ – dann sei sie ganz materialistisch nur auf „Geschenke“ von ihm erpicht, also darauf aus, ihn auszunutzen. (5) Alles in allem ergibt sich aus jeder der einander widersprechenden „Eigenschaften“ das Urteil über die Frau als einer moralisch verkommenen Gestalt: Als halbes Tier kaum fähig zur Verbindung mit vernünftigen Menschen, als Egoistin unwillens zur Gemeinschaft.
Nach dem Grad oder der Menge hervorgerufener sexueller „Reaktionen“ bei Frauen ergibt sich für Incels dann eine Hierarchie zwischen Männern, auf die sich vom „Chad“ oder „Alphamann“ an der Spitze über den „Normie“ bis zum „Incel“ am Ende unterschiedlich physiologisch und charakterlich definierte Typen von Männern verteilten.
Weil sie Begehren als bloß physiologische Angelegenheit auffassen, ist für Incels die Frage von Attraktivität mit dem Vorhandensein oder Fehlen von körperlichen Merkmalen entschieden. Ihre Physiologie stempele sie damit zu Verlierern, und da sie an dieser nur sehr bedingt etwas ändern können, betrachten sie ihre „Unterlegenheit“ und ihren daraus sich ergebenden Verliererstatus als unüberwindbar.

Das Selbstbild als anständiger und intellektueller Außenseiter

Statt den gesellschaftlichen Wettbewerb im Allgemeinen und den um Attraktivität und die Bedeutung von Sex für den bürgerlichen Selbstwert im Besonderen als schädliche Verkehrung der Konkurrenz in eine Frage der Fähigkeiten der Personen zu kritisieren, sehen sich Incels von ihrem (vermeintlich) schlechten Abschneiden im Wettbewerb um Partnerschaft und Sex gekränkt.

Während darunter eigentlich jede*r Einzelne auf die eine oder andere Art und Weise gelitten hat, wurden ausgerechnet harte Maßnahmen wie Lockdowns auf Foren wie Reddit oder 4chan von sog. Incels begrüßt: In für diese Szene typischem Zynismus wurde die Pandemie etwa als „St. Coranavirus“ gepriesen, da er nun auch alle anderen in der Gesellschaft in die Lage brächte, in der sich Incels ohnehin befänden: sozial isoliert, für soziale Aufmerksamkeit auf die Online-Welt verwiesen.

Der eigenen Kränkung entspricht dann umgekehrt die Verachtung der anderen: Oberflächlich, sexversessen, animalisch. Den Urteilen über die Restgesellschaft, die sie angeblich vom Sex ausschließe, ist zu entnehmen, dass Incels sich von ihr positiv abgrenzen wollen: Sie seien nicht einfach animalisch ihrer Natur ausgeliefert, sondern hätten Geist. So ließen sie sich nicht von bloßen Äußer- und Oberflächlichkeiten leiten, sondern seien irgendwie tiefgründiger, ernsthafter, innerlicher und netter. (6) Diese eingebildeten Abhebungen vom sexbesessenen Rest zeigen, dass Incels das mit der Sexlosigkeit vermeintlich über sie gesprochene Unwert-Urteil nicht einfach gelten lassen wollen: Ihrem Selbstbild entspricht das angenommene gesellschaftliche Urteil nämlich nicht. Zwar betrachten sich Incels durchaus als ziemliche Versager, erklären im nächsten Schritt allerdings das ganze Feld der Sexualität zu einem unwesentlichen, über das sie als moralische Individuen und unangepasste Intellektuelle ohnehin erhaben seien. So kontern sie ihr eigenes Versager-Urteil mit einem kompensatorischen Selbstideal. In dieser Perspektive können sie sich dann als ganz besonders herausgehobene Individuen genießen, die – obwohl deren „Opfer“ – „den Normies“ moralisch und intellektuell haushoch überlegen sind. Die vermeintliche Überlegenheit der anderen – wegen Attraktivität und sexueller Erfahrung – entwertet sich damit, indem sie den Incels moralisch und geistig als ziemlich minderwertig gelten.

Die „Erklärung“ für die Lage: Feminismus

Incels erheben nicht nur gegenüber den einzelnen Frauen, die sie zurückgewiesen haben, sondern der ganzen Gesellschaft gegenüber den Vorwurf, die falschen „oberflächlichen“ und „sexbesessenen“ Maßstäbe zu setzen. Das sei früher noch anders gewesen: Da sei nämlich jedem Mann eine seinem „Attraktivitätslevel“ entsprechende Frau in lebenslanger Ehe garantiert gewesen (engl. „Looksmatch“). Dieser Zustand gehöre nunmehr aber der Vergangenheit an. Heutzutage seien Frauen einem Anspruchsdenken verfallen, nach welchem ihnen eigentlich nur noch „Chads“ genügten – egal wie „unattraktiv“ sie selbst seien. Das habe zu einem „Ungleichgewicht“ geführt, so dass einige wenige Alphamänner (die „Chads“) Zugriff auf den Großteil der Frauen hätten und ein immer größer werdender Teil der Männer einfach „leer“ ausginge. Abgesehen von dem grotesken Besitzanspruch, der sich in dieser ausgemalten „Normalverteilung“ vom „Gut“ Frau auf Männer offenbart, geben Incels mit ihrer Sicht auf die „ungerechten“ aktuellen Geschlechterverhältnisse kund, dass ihr Ärgernis grundlegend aus dem Umstand besteht, dass Frauen über einen freien Willen verfügen und sich in Sachen Partner- und Beziehungswahl im Vergleich zu früheren Geschlechterarrangements entscheiden können.
Für diese „Fehlentwicklung“ und „Ungerechtigkeit“ gegenüber weniger attraktiven Männern machen Incels Feminismus und „Kulturmarxismus“ verantwortlich: Durch sie wären Frauen so sehr in ihrem Selbstbewusstsein gestärkt worden, dass sie – in den Augen der Incels – viel zu hohe Ansprüche in Bezug auf potenzielle männliche Partner entwickelt und eine generelle Machtposition gegenüber Männern erworben hätten, welche sich für Männer letztlich darin äußert, von ihrer Wahl abhängig zu sein. Objektiv machen Incels den Grund für ihre „Lage“ als „Opfer“ also darin aus, dass Frauen als Rechtssubjekte vom Staat anerkannt worden sind und als solche sowohl über das Abschließen von Verträgen, Eingehen und Auflösen von Ehen und den eigenen Körper und ihre Sexualität bestimmen dürfen (7).
Diese Veränderungen stellen sich in der Incel-Ideologie im Resultat als für Männer im Allgemeinen und Incels im Besonderen „untragbare“ Verhältnisse dar: Während Frauen als Berufstätige und als Trägerinnen des Rechts auf sexuelle Selbstbestimmung in der Incel-Ideologie ihre Rolle als Frau verletzen, würden Männer in den aktuellen, polit-moralisch verdorbenen Verhältnissen ihrer Männlichkeit entwöhnt, so dass sie sich die „Unterdrückung“ und „Abhängigkeit“ von Frauen auch noch kollektiv gefallen ließen.

Die Antwort: Bestrafung des matriarchalen Unrechts per Femizid

Von der Analyse, dass sie mit ihrer sexlosen Lage Opfer eines einzigen feministischen Verbrechens sind, kommen Incels zum Bedürfnis, das Unrecht zu vergelten. Ob als Phantasie oder – in bitterster Konsequenz – als Massenmord, leben sie dabei ein Strafbedürfnis aus.
Manche Incels frönen dabei etwa Verbotsphantasien, wonach sie es am liebsten hätten, wenn nicht nur ihnen, sondern allen Sex verweigert würde, und andere wiederum erträumen sich ein staatlich zugesichertes „Recht auf Vergewaltigung“ als Kompensation ihrer „Unrechtslage“ herbei. (8)
Und schließlich, und darüber ist die Incel-Szene ja überhaupt erst bekannt geworden, ziehen manche Incels in ihren ganz persönlichen tödlichen Rachefeldzug. Für das ihnen „angetane Unrecht“ und die ständig – eben wahnhaft – erlittene Demütigung verlangen diese Incels Vergeltung und „Wiedergutmachung“. Das tun sie im Bewusstsein, Widerstand gegen die ihnen so feindliche Welt zu leisten (engl. „Beta Male Uprising“), die Menschen wie sie kleinhalten und unterdrücken wolle. (9) Der Massenmord an (v. a.) Frauen ist als Aufstand gegen das „Matriarchat“ und als Mutmacher und Fanal für Gleichgesinnte gemeint.
In Gewaltphantasien und -taten wird so die empfundene Ohnmacht (Frau als „Machthaberin“ über den Sex) und Demütigung (Nicht-Gewährung von Sex) kompensiert. (10) Im Bewusstsein, sich gegen einen Unrechtstatbestand zur Wehr zu setzen, soll mit dem Gewaltakt eine „natürliche Ordnung“ „wiederhergestellt“ oder zumindest mit herbeigeführt werden, gegen die der Feminismus verstoßen habe. Die eigene Gewalttätigkeit gilt Incels dabei als Reaktion, als legitime Gegenwehr gegen eine als Negation der eigenen Existenz empfundene Ablehnung: „Die Ablehnung, die Frauen mir entgegenbringen, ist eine Kriegserklärung, und wenn sie Krieg wollen, sollen sie Krieg haben. Es wird ein Krieg sein, der in ihrer kompletten und totalen Vernichtung münden wird.“ (11)
Im Grunde verhält es sich also so: Ihr durch Zurückweisung und Sexlosigkeit gekränktes Anerkennungsbedürfnis wollen diese Incels nicht auf sich sitzen lassen. Sie halten sich nämlich für sehr anerkennungswürdige, ja eigentlich ziemlich liebenswürdige und vor allem intelligente Menschen. Dass sie so außergewöhnliche Menschen sind, die eigentlich nur Anerkennung verdient haben, wissen sie so sicher, dass sie das anderen im Gewaltakt demonstrieren wollen: „Er würde jedem zeigen, dass er ‚der Überlegene, das wahre Alphamännchen‘ sei.“ (12) Wer ihnen nicht per Einwilligung in Sex die Achtung und Anerkennung entgegenbringt, die ihnen zustünde bzw. die sie zu verdienen meinen, gehört per Gewalt bestraft und untergeordnet. Sie demonstrieren mit dem Massenmord, dass sie achtungswürdige Gestalten sind, indem sie diejenigen umbringen, die ihnen das die ganze Zeit vermeintlich verwehren wollen würden.
Auch diese Denkweise ist nicht nur bei Incels anzutreffen, schließlich können sie damit an ein verbreitetes Rechtsbewusstsein anknüpfen: Wer sich ein ideelles Recht auf Erfolg und Anerkennung einbildet und angesichts von Misserfolg der Meinung ist, dass ihm die Welt oder die Partner*innen dieses schuldig bleiben, sieht sich missachtet und greift dann in der Überzeugung, im Recht zu sein, zur Gewalt, um sich den Respekt als anspruchsberechtigte Person zu verschaffen.

(1) Ein User schrieb etwa: „The fact that Chad and Stacy aren’t getting to have promiscuous sex right now honestly makes me so happy” (https://www.newstatesman.com/science-tech/2020/03/incels-celebrating-lockdown-casual-sex-chad-stacy-4chan-reddit, zuletzt eingesehen am 29.11.2021)
(2) Im Folgenden werden Incels als heterosexuelle Männer dargestellt, was sich in den Formulierungen niederschlagen wird. Das verdankt sich dem Umstand, dass das auf die empirische Mehrheit der sich so Bezeichnenden zutrifft. Es handelt sich mehrheitlich, wenn auch nicht ausschließlich, um ein cis-männliches, heterosexuelles, weißes Phänomen, das sich letztlich als Produkt der bürgerlichen Gesellschaft erweist.
(3) Hierzu lesenswert die Zusammenfassung des Manifests des Incel-Attentäters Elliot Rodger in Veronika Krachers Buch „Incels“; ein Ausschnitt: „So wie er Frauen abwertet, überhöht er ihren Einfluss auf sein Leben: als er mit elf Jahren beim Spielen in ein Mädchen rennt und diese ihn als Reaktion schubst und anschreit, betrachtet er diese Tat als ‚Grausamkeit‘, die ihn ‚ohne Ende traumatisiert‘ und ihm ‚lebenslange Narben zufügt‘. Von Frauen grausam behandelt zu werden, ist zehnmal schlimmer, als von Männern grausam behandelt zu werden‘, so Rodger; da ihn diese Ablehnung umso mehr damit konfrontieren würde, ein ‚Versager‘ zu sein.“ (Veronika Kracher, Incels. Geschichte, Sprache und Ideologie eines Online-Kults, Mainz 2020, S. 67)
(4) Das verkennt die menschliche Sexualität, die nicht lediglich ein körperliches Reagieren ist, sondern Lustempfindung und Begehren, also eine Einheit von körperlicher und geistiger Erregung. Dementsprechend können Menschen unterschiedliche Leute und Praxen begehren; und es ändert sich auch individuell wie gesellschaftlich, was als begehrenswert angesehen wird, mit den je gültigen Maßstäben von Erfolg – entlang derer dann Menschen als attraktiv/unattraktiv sortiert werden.
(5) Dieser Widerspruch wird auch in ein zeitliches Nacheinander gebracht: Während junge Frauen genetisch pur auf Sex und darin auf die attraktivsten männlichen „Alpha“-Exemplare programmiert seien, seien „verbrauchte“ Frauen ab Dreißig (!) auf Familienplanung geeicht und suchten sich dafür dann einen zwar mittelmäßigen, aber treuen, also ihnen zumindest Sicherheit bietenden Mann, mit dem sie dann eine ganze „normale“ Familie gründen und so zu abfällig bezeichneten „Normies“ würden (vgl. Susanne Kaiser, Politische Männlichkeit: Wie Incels, Fundamentalisten und Autoritäre für das Patriarchat mobilmachen, Berlin 2020, S. 28).
(6) Während Incels die „Chads“ für ihre „Animalität“ und Brutalität gegenüber Frauen verachten, betrachten ausgerechnet sie – die sich v. a. in Frauenverachtung üben – sich selbst gern als ganz „liebe Kerle“.
(7) Dass all diese Rechte wie Rechte im Allgemeinen auch durch einen gesetzlichen Rahmen geregelt und mit ihm jeweils bestimmte Bedingungen verknüpft sind, die die Nutzbarmachung des weiblichen Geschlechts für die bürgerliche Staats- und Wirtschaftsordnung garantieren, interessiert Incels nicht. Sie sehen mit der etwas gleichgestellteren Position von Frauen stattdessen gleich das ganze Gesellschaftsgefüge unter weibliche Kontrolle gebracht – zu dem inhaltsleeren selbstzweckhaften Ziel, Männer zu beherrschen.
(8) In einem Incel-Pamphlet namens „Rapepill-Manifest“ wird das damit gerechtfertigt, „dass Vergewaltigung ein natürliches männliches Bedürfnis und außerdem die einzige Möglichkeit für Incels sei, an Sex zu gelangen.“ (Kracher, S. 105)
(9) Manche versteigen sich dabei sogar bis zu Verschwörungsideen wie jener eines beabsichtigten „Incelocausts“ seitens des Feminismus. So phantasieren sich ausgerechnet Leute, die Frauen umbringen oder der tödlichen „Rache“ an ihnen zumindest positiv gegenüberstehen, dazu, dass ihr Wille zur Gewalt nichts als Gegenwehr gegen einen gegen sie gerichteten Vernichtungswillen sei.
(10) Ohnmacht und Demütigung werden demzufolge als Unrecht am Mann definiert, wenn sie sich an weiblicher Zurückweisung festmachen, weshalb Frauen zum vorrangigen Strafobjekt auserkoren werden: Sie sind es, die Incels v. a. umbringen.
(11) Manifest des Incel-Attentäters Elliot Rodgers, S. 131, zitiert nach Kracher, S. 74.
(12) https://www.woz.ch/-90f1

Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Druckausgabe der GWR. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.