Quo vadis, Kriegsdienst?

Über die vergessene Notwendigkeit, den Zwang zum Kriegsdienst in Deutschland abzuschaffen

| marah f.

Den meisten Menschen ist nicht bewusst, dass der staatliche Zwang zum Kriegsdienst in der Bundesrepublik nur bedingt ausgesetzt ist. Die Diskussionen über den Umgang mit Kriegsdienstverweiger*innen im Ukraine-Krieg, die in der EU kein politisches Asyl erhalten, und Überlegungen zur Wiederaufnahme des Kriegsdienstzwangs verheißen nichts Gutes. Vor dem Hintergrund der laufenden Militarisierung stellt marah f. die gesetzlichen Regelungen zum Kriegsdienstzwang dar und macht deutlich, dass die umfassende und ersatzlose Abschaffung des staatlichen Kriegsdiensts überfällig ist. (GWR-Red.)

Militärische Auseinandersetzungen und innerstaatliche Kriege sind die Lebensrealität vieler Menschen. Das spiegelt sich in der Zahl gewaltsam vertriebener Personen wider, welche in diesem Jahr auf 103 Millionen (1) angestiegen ist. Mit dem russischen Angriffskrieg in der Ukraine nahmen auch innereuropäische Fluchtbewegungen stark zu – und mit ihnen das Sprechen über Krieg und die militärische Aufrüstung Europas. So wird in der Öffentlichkeit großes Lob für den Patriotismus ukrainischer Staatsbürger*innen kommuniziert, die sich freiwillig dem Militär oder paramilitärischen Verteidigungseinheiten angeschlossen haben. Aber auch Kritik am Kriegsdienstzwang in der Ukraine und Unmut über das allgemeine Ausreiseverbot von Männern sind zu hören. Was in den meisten Beiträgen nicht thematisiert wird, ist die Übertragbarkeit der Situation ukrainischer Kriegsdienstleistende auf die BRD. Entgegen der irreführenden Auffassung, der Kriegsdienstzwang sei 2011 abgeschafft worden, ist diese nach wie vor im Grundgesetz verankert. Sie greift, sobald Deutschland sich in einem Spannungs- oder Verteidigungsfall befindet: eine Situation, über die notwendigerweise gesprochen werden muss – nicht nur wegen des Krieges in der Ukraine, sondern auch wegen der enormen Steigerung des Verteidigungsetats und des Sondervermögens der Bundeswehr.

Internationale Spirale der Militarisierung

Offiziell sind europäische Regierungen geschockt über den anhaltenden Krieg in der Ukraine, doch im Schatten politischer Betroffenheitsrhetorik wird die Umsetzung eigener militaristischer und nationalistischer Ziele verfolgt. Trotz oder wegen des Krieges hat die Spirale der Militarisierung europaweit einen enormen Innovationsschub durchlaufen: Dies zeigt sich materiell in einer Steigerung der NATO-Beiträge Deutschlands, im Sondervermögen für die Bundeswehr und in der Erhöhung des Etats des Verteidigungsministeriums auf 58,6 Milliarden Euro für 2023 (2). Ebenso wird diese Entwicklung in der militärischen Aufrüstung und Befugniserweiterung der Bundespolizei (3) sowie der Kriminalisierung von Protesten gegen militärisch-industrielle bzw. militärisch-technologische Infrastrukturen im Inland und an den europäischen Grenzen sichtbar.
Ideell beobachten wir die Enttabuisierung des Sprechens über Kriegspolitik und tödliche Rüstungsgüter, die Militarisierung der Alltagssprache und die Diskussion zur „Wiedereinführung“ des gesetzlichen Zwangs zum Kriegsdienst. Darüber hinaus scheint die Präsenz von Soldat*innen im öffentlichen Raum – sei es in ICEs, in Impfzentren oder in der gamifizierten Werbung der Bundeswehr – in gleichem Tempo zuzunehmen wie die Aufdeckung rechtsextremer Netzwerke bei Polizei, Militär und Nachrichtendiensten.

Militarismus, Pazifismus und die Frage der Solidarität

Eine grundsätzliche Kritik am Militarismus und an Waffenlieferungen stößt derzeit auf heftige Abwehrreaktionen, aus denen sich nur mit großer Mühe das Bedürfnis nach Frieden interpretieren lässt. Pazifismus und Antimilitarismus werden reflexartig als idealistisch und gefährlich abgetan, während die militärische Unterstützung der Ukraine und die Kooperation der NATO-Staaten als „solidarisch“ gilt. Besonders der in Hinblick auf die Ukraine positiv konnotierte Nationalismus sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass es dort nach wie vor faschistische und NS-verherrlichende Kräfte gibt, denen die Eingliederung in ein staatliches Militär gelungen ist (4).

Kriegsdienstverweigerung und politisches Asyl

Im September 2022 diskutierte die Bundesregierung mit anderen Mitgliedsstaaten der EU darüber, ob über 210.000 russische, 22.000 belarussische und 290.000 ukrainische Kriegsdienstverweiger*innen und Deserteur*innen (5) ein Asylgesuch in der EU stellen dürfen. Begleitet wurde die gewohnt selektive, nationalistische und diskriminierende Debatte des europäischen Migrationsregimes von einer Rhetorik, die mit zweierlei Maß misst: Während Russ*innen und Belaruss*innen dazu ermutigt werden, sich trotz heftiger Repression gegen eine Einberufung aufzulehnen, werden Ukrainer*innen zur Verteidigung „ihres“ Landes aufgerufen. Im Falle von Verurteilungen aufgrund von Kriegsdienstverweigerung bleiben europäische Regierungen still (6). Es handelt sich folglich weder um eine allgemeine Kritik am Kriegsdienst noch um die Umsetzung der propagierten Werte Frieden, Freiheit und Selbstbestimmung – sondern um die Zugehörigkeit zum „richtigen“ Militärbündnis, welche die Ausbildung zum Krieg rechtfertigt.
Diese Diskussionen sollten Anlass genug sein, um über die verfassungsrechtliche Verankerung des Kriegsdienstzwangs in der BRD zu sprechen. Derzeit ist zwar der Grundwehrdienst ausgesetzt, doch nur solange kein Spannungs- oder Verteidigungsfall vorliegt. Eine unsichere Situation, bedenkt man die Verwicklung Deutschlands in den Krieg in der Ukraine – wenngleich nicht militärisch, sondern „nur“ durch die Bereitstellung militärischer Ausrüstung sowie wirtschaftlicher und politischer Mittel. Der Zeitpunkt ist ebenso dringlich wie günstig, denn eine Bundesregierung, die Kriegsdienstleistende anderer Staaten zur Kriegsdienstverweigerung ermutigt, kann sich argumentativ nur schwer aus dem eigenen Zwang zum Kriegsdienst herauswinden. Es ist mehr als überfällig, die entsprechenden Artikel aus dem Grundgesetz zu nehmen – und bis dahin zivilen anti-militärischen Widerstand zu leisten.

Die allgemeine Wehrpflicht in der BRD

Um die Institution des Kriegsdienstzwangs („Wehrpflicht“) zu begreifen, muss man sich zunächst Artikel 12a des Grundgesetzes (GG) anschauen. Im ersten Absatz heißt es, dass Männer „vom vollendeten 18. Lebensjahr an zum Dienst in den Streitkräften, im Bundesgrenzschutz oder in einem Zivilschutzverband verpflichtet werden“ können (Art. 12a Abs. 1 GG). Frauen dürfen „auf keinen Fall zum Dienst mit der Waffe verpflichtet werden“ (Art. 12a Abs. 4 GG), doch können sie im Verteidigungsfalle (und nur in diesem) „vom vollendeten 18. bis zum vollendeten 55. Lebensjahr durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes“ zu einem Dienst im zivilen Sanitäts- und Heilwesen sowie in der ortsfesten militärischen Lazarettorganisation verpflichtet werden (Art. 12a Abs. 49 GG), sofern der Bedarf an diesen Dienstleistungen nicht auf freiwilliger Grundlage gedeckt werden kann.
Der Zwang zum Kriegsdienst ist seit 1968 im Grundgesetz verankert. Der sog. Grundwehrdienst ist zwar seit 2011 ausgesetzt, die verfassungsrechtliche Grundlage des Kriegsdienstzwangs jedoch nicht. Dies wird mitunter ungenau dargestellt. Zudem weckt das irreführende Begriffspaar „Aussetzung der Wehrpflicht“ einen falschen Eindruck über die tatsächliche gesetzliche Regelung zum Dienst an der Waffe, die weitaus weniger liberal ist, als es politisch und gesellschaftlich kommuniziert wird. Im Jahr 2011 wurde das Wehrpflichtgesetz (WPflG) geändert, sodass gegenwärtig niemand mehr zum Kriegsdienst gezwungen werden kann (§ 2 WPflG). Das Wort „gegenwärtig“ verweist bereits auf die Temporalität dieser Regelung. Zudem entfällt der Paragraf 2 vollständig im Spannungs- und Verteidigungsfall.

Wann gilt der Verteidigungsfall?

Als Verteidigungsfall gilt die „Feststellung, daß das Bundesgebiet mit Waffengewalt angegriffen wird oder ein solcher Angriff unmittelbar droht“ (Art. 115a Abs. 1 GG). Der Spannungsfall wird in der Verfassung nicht näher definiert (Art. 80a GG); er ist eine politische Ermessensentscheidung des Bundestags oder der Bundesregierung, geht mit einer Erhöhung der „militärischen Alarmstufe“ einher und gilt als Vorstufe des Verteidigungsfalls.
In beiden Fällen greifen die Paragrafen 3 bis 53 des Wehrpflichtgesetzes ohne weitere Einschränkungen – inklusive des Kriegsdienstzwangs für alle Männer ab dem 18. Lebensjahr, der erst mit der Vollendung des 60. Lebensjahrs endet und bis dahin unbefristet gilt (Art. 4 Abs. 1 Nr. 7 WPflG), und des Ausreiseverbots für alle potenziell Wehrpflichtigen ab Vollendung des 17. Lebensjahres (Art. 3 Abs. 2 WPflG).
Eine bedeutsame Ausnahme stellt das Recht auf Verweigerung des Kriegsdienstes aus Gewissensgründen (Art. 4 Abs. 3 GG) dar. Dieses Recht, das im Kriegsdienstverweigerungsgesetz (KDVG) näher geregelt ist, besteht im Spannungs- und Verteidigungsfall fort. Jedoch ist die Verweigerung des Kriegsdienstes aus Gewissensgründen an die Absolvierung eines sog. vollwertigen Ersatzdienstes (Art. 12a Abs. 2 GG, § 1 Abs. 1 KDVG) geknüpft – denn eine Totalverweigerung des Wehr- und Ersatzdiensts ist im Grundgesetz nicht vorgesehen. Sie ist strafbar (§§ 52, 53 ZDG), ebenso wie die Ausreise Wehrpflichtiger (§ 3 Abs. 2 WPflG).

Die Ausbildung zum Krieg führt zu militärischer Konfliktlösung

Ähnlich wie andere demokratische Verfassungsstaaten geht die BRD bei „erhöhter militärischer Gefahr“ mit ihren Staatsbürger*innen wenig empathisch um und setzt die kollektive Verteidigung des Nationalstaats über das Individuum und das Recht auf körperliche und psychische Unversehrtheit. Die Situation ist folglich nicht anders als jene in der Ukraine.
Für die Analyse des Militarismus ist es unverzichtbar zu wissen, dass der Zwang zum Kriegsdienst in der BRD noch immer gesetzlich verankert ist und der Grundwehrdienst seit 2011 nur bedingt ausgesetzt ist. Das hat weitreichende politische und soziale Konsequenzen in einer Phase, in der das Handeln gegenwärtiger Gesellschaften zwar vom Militarismus durchdrungen, der Zwang zum Kriegsdienst jedoch aus dem Bewusstsein junger Menschen verschwunden ist – und damit auch die vielen Formen des zivilen Widerstands dagegen.
Hier erscheint es lohnend, sich mit den antimilitaristischen Bewegungen des letzten Jahrhunderts auseinanderzusetzen und erprobte Werkzeuge in aktuellen Kämpfen gegen die kapitalistische Kriegsmaschinerie einzusetzen: Zunächst braucht es die bedingungslose Solidarität mit allen, die sich dem Militär, der Rüstungsindustrie und dem Krieg entschieden entgegenstellen. Daran schließen sich Taktiken wie Adbusting durch lose verbundene Kommunikationsguerilla-Gruppen, ziviler Ungehorsam und direkte Aktionen gegen den Staat, Sabotage der Produktions- und Lieferketten der Rüstungsindustrie, die Nicht-Zusammenarbeit mit militärischer Forschung, Streiks und Steuerverweigerung an. Und es ist nötig, pazifistische und abolitionistische Bewegungen zu stärken und Prinzipien der transformativen Gerechtigkeit zu erlernen.

Abschaffung des Kriegsdienstzwangs als entscheidender Schritt zur Abrüstung

Der 2011 hinzugefügte Paragraf 2 des Wehrpflichtgesetzes kann durch eine abstrakte Normenkontrolle – die von der Bundesregierung, einer Landesregierung oder einem Viertel der Mitglieder des Bundestags eingereicht werden kann – ebenso gut wieder außer Kraft gesetzt werden. Solange die Gesetzgebung den Zwang zum Kriegsdienst vorsieht und damit Individuen zur militärischen Ausbildung und zum Dienst an der Waffe zwingt, braucht es Entschlossenheit gegen das militärische Denken, welches internationale Politik lenkt und Nationalismus stärkt.
Die tatsächliche Abschaffung des Zwangs zum Kriegsdienst ist nach wie vor ein entscheidender Schritt zur Abrüstung und zur Übernahme von Verantwortung für das eigene Leben. Zwangsdienst – ob nun Wehrpflicht, Ersatzdienst oder das derzeit diskutierte „verpflichtend-freiwillige“ soziale Jahr – führt zur Einschränkung der freien Persönlichkeitsentfaltung und zur Akzeptanz hierarchischer Organisationsformen.
Die Ausbildung für den Krieg kann nur in der kriegerischen Umsetzung von Konflikten münden; blinder Gehorsam gegenüber Autoritäten, Strukturen und gewaltvollen Befehlen steht den Prinzipien der Selbstorganisation und kollektiver Verantwortung diametral entgegen.

Radikale Transformation

Das Bedürfnis nach Frieden wird von den meisten Menschen geteilt, während die Strategien der Konfliktbewältigung unterschiedlicher nicht sein könnten. Ein Ansatz aus der gewaltfreien Kommunikation ist es, sich der Übereinstimmung von Bedürfnissen bewusst zu werden und diese zum Ausgangspunkt gemeinsamer Überlegungen zu machen. Folglich gilt es, das Bedürfnis nach Frieden anzuerkennen und zugleich nicht zu vergessen, dass die Beurteilung eines Konflikts auf den materiellen Bedingungen basiert, in denen wir uns persönlich befinden. Ängste und die schnelle Akzeptanz eines gewaltvollen und autoritären Sicherheitsverständnisses dürfen nicht verunsichern, denn es ist möglich, unser Zusammenleben und unsere Umwelt radikal zu transformieren.
Antimilitaristische Interventionen umfassen auch Sozialpolitik, den Aufbau selbstorganisierter, solidarischer Sicherheitsnetze und die Verbreitung transformativer Gerechtigkeitsansätze. Die Ideen dazu liegen bereit; es liegt an uns, mit ihnen zu experimentieren und tiefgreifende Veränderungen anzustoßen, statt uns von den irrationalen, unmenschlichen und gewaltvollen Kräften des Patriotismus und einer militärischen Außenpolitik abhängig zu machen.

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