Der revolutionäre Prozess im Iran

Das theokratische Mullah-Regime steht unter Druck

| O. G.

Seitdem am 16. September 2022 die iranische Kurdin Mahsa Jina Amini im Gewahrsam der islamischen Sittenpolizei ermordet wurde, weil sie ein Kopftuch „nicht korrekt“ getragen hat, tragen die Menschen im Iran ihren Protest gegen das islamische Staatsterrorregime auf die Straße. Im ganzen Land hat sich eine soziale Massenprotestbewegung gegen die theokratische Mullah-Diktatur entwickelt. Auch die vielen Hinrichtungen, Massenverhaftungen, Folter und Morde durch Polizei und Geheimdienst konnten die Proteste bis heute nicht ersticken. Anknüpfend an seinen Artikel in der GWR 474 skizziert O. G. für die Leser*innen der Graswurzelrevolution die aktuellen Entwicklungen. (GWR-Red.)

Für „Frau, Leben, Freiheit“ lautet die Losung, die seit September 2022 eine Revolution im Iran antreibt. Findige Menschen ergänzten daraufhin sofort „Mann, Heimat, Wohlstand“. War damit die revolutionäre Bewegung bereits in seinen Anfängen gescheitert?
Nein. Dies war erst der Beginn. Shervin Hajipour setzte in seinem Lied „Baraye“ zwischen diese Zeilen den feinen Satz „Für das Mädchen, dass sich wünschte ein Junge zu sein“. Er gewann mit dem Song erst kürzlich den Grammy–Award für „Social Change“. Der junge Mann wirkt, aus dem Gefängnis entlassen und im Iran allerdings eingesperrt, auf Bildern selbst völlig perplex. Auf Twitter schreibt er kurze Zeit später den einfachen Satz: „Wir haben gewonnen!“

Der revolutionäre Impuls hat nicht nur im Iran Kräfte freigesetzt, die auch fünf Monate danach dauerhaft zu Protesten auf den Straßen und zu Streiks in den Betrieben führen. Im Februar rund um den Jahrestag des Sieges der islamischen Revolution brannten die Banner des Regimes und schallte es nachts aus den Wohnungen. Jeden Freitag Massendemonstrationen in Zahedan in Belutschistan. Am 16. Februar 2023 gingen sie wieder im ganzen Land auf die Straße, allen voran in den kurdischen Gebieten.

Auch außerhalb des Iran hat der revolutionäre Funke eine enorme politische Wirkung entfaltet. Dabei stehen verschiedene politische Kräfte in Wechselwirkung miteinander. Sie eint der Wille, die politische Macht zu übernehmen. Dabei gibt es sehr unterschiedliche Vorstellungen davon wie diese Macht organisiert sein soll. In der Diaspora wird sichtbar, dass nicht Wenige die Vorstellung haben, dass diese Macht in der Hand einiger weniger Personen oder gar nur einer einzigen Person gebündelt werden müsse. Während „Frau, Leben, Freiheit – Jin, Jiyan, Azadi“ eine transnationale Bewegung darstellt, was sich dadurch ausdrückt, dass sie bereits in Syrien, im Irak und besonders beeindruckend aktuell in Afghanistan Widerhall findet, setzen andere Gruppierungen auf nationalstaatliche Organisierung. Es entbrennt ein Streit um die Symbolik – konkret die Fahne. Während die Nationalfarben Rot,Weiß und Grün noch unumstritten sind, repräsentiert das Symbol in der Mitte die jeweilige Herrschaft.

Neben der Symbolik geht es aber auch um die Frage, wie die Transformation zur Demokratie erfolgen kann. Benötigt es einer Übergangsregierung und wie könnte diese aussehen? Hinzu kommt: In den westlichen Demokratien bedarf es scheinbar einer Repräsentation der Bewegung, um deren Belange gegenüber den Regierungen zu vertreten. Zugang zu den Entscheidungsträger*innen in Europa und den USA erhielten als Erstes auf der einen Seite die Lobbyisten der sogenannten Reformer*innen des Regimes und auf der anderen Seite die Volksmujaheddin. Letztere sind zwar die einzige fest organisierte Oppositionsgruppe im Iran, für einen Großteil der Bevölkerung aber inakzeptabel.

Während die iranische Linke darauf pocht, dass die zukünftige Führung des Landes derzeit in den Gefängnissen sitzt, formiert sich im Ausland ein achtköpfiges Team. Unter ihnen befinden sich die Frauenaktivistin Masih Alinejad, die Nobelpreisträgerin und Juristin Shirin Ebadi, der kanadische Aktivist Hamed Esmaeilion, der von seinen Anhänger*innen „Kronprinz“ genannte Reza Pahlavi und der Vorsitzende der sozialdemokratisch orientierten kurdischen Komala-Partei Abdullah Mohtadi. Welche dieser Optionen zum Zuge kommen wird, ist weiterhin nicht ausgemacht. Eine Umfrage des niederländischen GAMAAN-Institutes ergibt folgendes Bild: Einen solchen Übergangsrat befürworten etwa zu gleichen Anteilen die Iraner*innen nur unter Einschluss der Opposition im Land oder aber als Exilrat. Auch über die Funktion eines Übergangsrates gibt es unterschiedliche Auffassungen.

Reza Pahlavi ist der älteste Sohn des durch die Revolution 1979 gestürzten Schahs, Mohammad Reza Pahlavi, und der ehemaligen Kaiserin Farah Pahlavi. Schah-Anhänger*innen und solche, die Reza Pahlavi als Repräsentanten einer Übergangsregierung sehen, sammelten im Januar 2023 in einer Petition 450.000 Unterschriften für ihren „Anwalt“. In Düsseldorf rief ein Künstler gegenüber jubelnden Anhänger*innen von der Bühne: „Iran ist bereit, Schah gib die Befehle.“
Der SAVAK war von 1957 bis 1979 der iranische Geheimdienst und ist für vielfache Morde und Folter unter der Schreckensherrschaft des Schah-Regimes verantwortlich. Die zwar in eher geringer Anzahl, allerdings aggressiv auftretenden faschistischen Anhänger*innen jubelten gar, als der ehemalige SAVAK-Leiter und Folterer Parviz Sabeti vor kurzem an einer Demonstration in Los Angeles teilnahm.
Das achtköpfige Team lässt sich auf diese Forderungen jedoch offenbar nicht ein. Sie machen vielmehr deutlich, dass sie die Kritik an ihrem bürgerlichen Bündnis sehr wohl wahrnehmen. So verweisen sie selbst auf fehlende Repräsentanz ethnischer und religiöser Minderheiten und der iranischen Jugend in ihrem Bündnis. Auch betonen sie immer wieder, dass die Entscheidungen bei den Menschen im Iran liegen. Hamed Esmaeilion nannte am 16. Februar 2023 ausdrücklich jeden Aufruf, der zur Einigung der Opposition gegen das Regime beitrage, einen Gewinn.

Damit ist die gemeinsame Erklärung der Mindestforderungen 20 unabhängiger Gewerkschafts- und Zivilorganisationen des Iran gemeint. Darin heißt es: „Nach den beiden großen Revolutionen in der iranischen Zeitgeschichte sind nun die progressiven sozialen Bewegungen in einer historisch einflußreichen Position […] als Massenbewegungen von Unten. Sie haben eine entscheidende Stellung in der Gestaltung der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Struktur des Landes eingenommen. Daher zielt diese Bewegung darauf ab, die Entstehung jeglicher Macht von Oben für immer zu unterbinden und der Beginn einer sozialen, modernen und menschlichen Revolution zu sein, um Menschen von allen Formen der Unterdrückung, Diskriminierung, Ausbeutung, Tyrannei und Diktatur zu befreien.“

All diese politischen Entwicklungen tragen dazu bei, dass das islamische Regime weiter unter Druck steht. Das sehen auch Frauenaktivist*innen im Iran so, als eine bedeutende Anzahl politischer Gefangener im Februar freikommt. Es gilt also, diesen politischen Prozess zu unterstützen. Das Wesen einer Revolution besteht schließlich darin, dass jede*r Einzelne von uns einen Schritt dazu beiträgt.