Ein katholisch-anarchistischer Roman

„Ein Tag wird kommen“ von Giulia Caminito

| R@lf G. Landmesser, LPA Berlin

Giulia Caminito: Ein Tag wird kommen. Aus dem Italienischen von Barbara Kleiner. Roman, Klaus Wagenbach Verlag, Berlin 2022, 14 Euro, ISBN 9783803128522

Eigentlich wollte Giulia Caminito ihrem anarchistischen Urgroßvater Nicola Ugolini und seinen Genoss*innen mit diesem Roman ein Denkmal setzen. Sie hat viel dazu recherchiert. Aber nach Lektüre des Buches ist man nicht mehr so sicher, dass dies auch völlig gelungen ist. Denn ein großer Teil der Handlung dreht sich um das Nonnenkloster in Serra, in dem eine nicht weniger interessante Person gelebt und gewirkt hat: „La Moretta“ im Volksmund genannt. Die kleine, von Priestern freigekaufte Nuba-Sklavin namens Zeinab 
Alif wurde zu einem eigensinnigen, lerneifrigen und musikliebenden Mitglied des Ordens und bekam den Namen Suor (Schwester) Maria Giuseppina Benvenuti. Die Bewohner*innen des Städtchens verteidigten einst erfolgreich „ihr“ Kloster mit Steinen und Knüppeln, als es von der Kirche aufgelöst und verkauft werden sollte. Die einst von Arabern geraubte Schwarzafrikanerin „La Moretta“ war zu dieser Zeit schon Äbtissin des Klosters, in dem heute ein Museum untergebracht ist. Durch ihre Musik und caritative Arbeit war sie beliebt und steht nun anscheinend vor der „Heiligsprechung“.
Es ist also ein katholisch-anarchistischer Roman geworden, denn das Kloster spielt    eine zentrale Rolle, sitzt darin als Nonne doch auch unfreiwillig die Schwester Nella von Lupo und Nicola, einem ungleichen Brüderpaar, das jedoch durch eine große Zuneigung miteinander verbunden ist. Lupo ist der wilde und ungestüme Enkel seines anarchistischen Großvaters Giuseppe, ähnlich zur aufsässigen Nella, während Nicola ganz anders, zart und scheu und wissbegierig ist. Lupo muss schon früh die Familie miternähren und für Nicola Schulgeld besorgen, denn die väterliche Bäckerei wirft nicht viel ab, die Mutter Violante ist bettlägrig krank und eine andere Schwester, Adelaide, stirbt vor den Augen der Brüder in der Blüte ihrer Jugend mit 18 an einer rätselhaften Krankheit.
Die Autorin beschreibt in schnellen, düsteren Bildern die häusliche beklemmende Enge, die Armut, die aufgeladenen Verhältnisse, die Ausbeutung der Bauern: der Halbpächter, die nicht die Hälfte des Erwirtschafteten, sondern zwei Drittel an die Pachtherren abtreten müssen und ein elendes Dasein führen.
Der heranwachsende Lupo findet im Wald einen verletzten jungen Wolf und zieht ihn zu Hause auf – gegen den Willen der machtlosen Eltern. Das Tier mit Namen Cane (lat. „Hund“) wird tatsächlich zahm, darf aber frei streifen. Lupo ist ja auch das lateinische Wort für Wolf und dieser echte Wolf wird so etwas wie sein Schatten.
Der dritte Bruder, der schon fast erwachsen tüchtig in der Bäckerei mitarbeitet, wird eines Tages von einem wütenden Obstbau-Pächter beim Äpfelklauen erschossen. Lupo zerhackt nachts aus Rache dessen Obstbäume. Die Familie fällt zusehends auseinander. Vater Luigi fängt geradezu verständlicherweise an zu saufen, vernachlässigt das ohnehin nicht gut gehende Bäckergeschäft. Armut hält auch hier Einzug.
Der rebellische Lupo ist von all dem Elend erbittert und wendet sich zunehmend den Genossen seines inzwischen verstorbenen anarchistischen Großvaters zu – er wird Anarchist wie der. In einer kurzen Einblendung erfahren wir von der „Settimana Rossa“ (Rote Woche) im nahe gelegenen Ancona, wo direkt neben Lupo ein gleichaltriger Genosse, Nello Budini, erschossen wird, als sie für die Rechte der Bauern und Arbeiter*innen demonstrieren. Auch Errico Malatesta hatte dort gesprochen. Er sprach unter anderem von Masetti, einem jungen Rekruten, der beim Appell auf seinen Oberst geschossen hatte, als dieser die Einheit in den Krieg nach Libyen schicken wollte.
Faschismus und Erster Weltkrieg ziehen herauf und ausgerechnet der zarte und lebensuntüchtige Nicola wird eingezogen und an dem härtesten Frontabschnitt in den Alpen eingesetzt, Schlachtvieh, Kanonenfutter, während Lupo sich der Einberufung entziehen kann – um einen hohen Preis. Als er von Nicolas Fronteinsatz erfährt, ist er verzweifelt und vom schnellen Tod des tapsigen Bruders überzeugt.
Don Agostino, der Priester des Ortes, den Lupo wie die ganze Kirche aus vollem Herzen hasst, spielt ständig eine zwielichtige Rolle als Ortsautorität, aber auch als höriger Kirchendiener und Feigling, der bei Ausbruch der Spanischen Grippe mehr an seine eigene Gesundheit denkt, als an die Opfer, die wie Fliegen sterben: darunter auch Lupos und Nicolas Mutter.
Atemlos kommt der Roman zu seinem Ende, von dem hier nicht zu viel verraten werden soll. Es ist eine Zeit, als der Anarchismus weitgehend zerschlagen scheint und viele verfolgte italienische Anarchist*innen übers Meer in die USA gehen müssen, neuen Verfolgungen und Ungerechtigkeiten entgegen. Für die stehen die Namen Sacco und Vanzetti beispielhaft. Der Name des einen Roman-Bruders, Nicola, ist offenbar ihnen gewidmet.
Giulia Caminito hat ihren Roman gekonnt mit kraftvoller Sprache in düsteren Coloraturen gezeichnet und ihm eine vielschichtige Spannung verliehen. Auch wenn die historischen Gestalten des Anarchismus darin oft nur gestreift werden, entsteht vor unseren Augen ein Bild, wie diese Zeit gewesen sein könnte. Die hübschen sonnigen Farbfotos des befestigten Bergstädtchens Serra de’ Conti, die wir Heutigen dazu im Internet finden, lassen davon kaum eine Ahnung aufkommen.