corona-krise

Woher kommen die Pakete?

Der Arbeitskampf bei Amazon in Zeiten von COVID-19

| Streiksolibündnis Leipzig

Walkout am Amazon-Standort LIL 1 FC, Lauwin-Planque, 18.3.2020 - Foto: SUD Commerces et Services Amazon Union

Die Schließung zahlreicher Läden in den Innenstädten und die Angst vor einer Ansteckung beim Verlassen des Hauses scheint die Verkaufszahlen bei Amazon in die Höhe zu treiben. Zumindest läuft es in dieser Hinsicht klasse beim Marktführer im Online-Handel. Während weltweit Regierungen die Ausbreitung der Pandemie mit Kontaktsperre-Gesetzen verlangsamen wollen, sind die Arbeiter*innen, die die Waren in Amazons Warenlagern picken, packen und stowen derzeit einem hohen Ansteckungsrisiko ausgesetzt. Die Angst vor einer Ansteckung führte zu ersten Streiks in den USA, Frankreich und Italien.

Weltweit reagierte der Konzern hierauf mit leichten Verbesserungen beim Ansteckungsschutz, aber auch der Zahlung einer fragwürdigen Anwesenheitsprämie. Offen ist, wie sich dieser Konflikt unter den Bedingungen der Kontaktsperre-Gesetzgebung weiterentwickeln wird. Hier können wir nur einen Zwischenstand liefern.

Held*innen in der Krise

Weltweit trifft die COVID-19-Pandemie Arbeiter*innen hart. Derzeit sind, neben vielen anderen Berufsgruppen, die Arbeiter*innen in den Supermärkten, Warenlagern und Krankenhäusern einem erhöhten Gesundheitsrisiko aufgrund der exponentiellen Ausbreitung des hoch ansteckenden COVID-19-Virus ausgesetzt. Hinzu kommt, dass Arbeiter*innen in diesen Sektoren aufgrund steigender Arbeitsbelastung stärker unter Stress stehen als sonst. Es ist klar, dass bestimmte Arbeiten aufgrund der gesellschaftlichen Dringlichkeit weiter laufen müssen. Immer häufiger ist in Reden von Politiker*innen oder in den Medien von „Held*innen“ oder „systemrelevanten Berufen“ die Rede, die den Laden in der Krise aufopferungsvoll aufrecht halten. Mittel- und langfristig könnte die sich abzeichnende Krise zu Erwerbslosigkeit und Verelendungserscheinungen bei der Klasse der Lohnabhängigen führen. Letzteres kann für die Beschäftigten von Amazon nicht abgeschätzt werden. Es ist aber anzunehmen, dass der stationäre Einzelhändler einen sinkenden Konsum stärker spüren wird als der Weltmarktführer im Onlinehandel.

Arbeiten als Gesundheitsrisiko
Walkout am Amazon-Standort ORY1 FC, Saran, 18.3.2020 – Foto: SUD Commerce et Services Amazon Union

Momentan laufen die Geschäfte für Amazon weltweit prächtig. Die Arbeitsvolumen erinnern Arbeiter*innen an das Weihnachtsgeschäft, die sogenannte Peak-Season, wenn die Zahl der Online-Bestellungen am höchsten ist – bloß sind die Arbeiter*innen vor dem Hintergrund der Pandemie einem deutlich höheren Gesundheitsrisiko ausgesetzt. Es lässt sich hierbei an allen Standorten, zu denen wir über Amazon Workers International (AWI) Kontakt haben, ein ähnliches Bild zeichnen. Dies deutet für uns auf ein global koordiniertes Krisenmanagement des Unternehmens hin. Egal ob in Poznań, Leipzig, Orly, Piacenza oder Chicago, tausende Menschen – und einige gehören den Risikogruppen an – müssen tagtäglich auf engem Raum zusammenarbeiten. Das lässt sich kaum vermeiden, selbst wenn Amazon mittlerweile einen Sicherheitsabstand eingeführt und Personal eingestellt hat, um seine Einhaltung zu überwachen. Die Arbeiter*innen treffen in den Regalreihen, beim gemeinsamen Arbeitsweg, am Schichtbeginn und -ende, wenn sich Schlangen an den Schleusen bilden, aufeinander. Desinfektionsmittel, Mundschutz und Fiebermessgeräte, die allmählich in allen uns bekannten Standorten zur Verfügung stehen, sind zwar hilfreich in der Ansteckungsprävention, aber es ist zweifelhaft, ob sie wirklich die Ausbreitung verhindern werden. Mittlerweile dürfte es allgemein bekannt sein, dass eine Infektion mit COVID-19 oft nur schwache oder gar keine Symptome zur Folge hat, was auch die Regierungen bei der Virusbekämpfung vor große Probleme stellt. Des Weiteren gibt es bei einem obligatorischen Fiebermessen in Deutschland von Seiten verschiedener Betriebsräte Bedenken hinsichtlich des Datenschutzes. Niemand kann gezwungen werden seinem Arbeitgeber Auskunft über seine gesundheitliche Situation zu geben. Die Gefahren für die Gesundheit wirken über die Warenlager hinaus. Die Arbeiter*innen könnten sich im Werk anstecken und dann den Virus draußen auf Menschen in ihrem Umfeld übertragen. Berichten aus verschiedenen Ländern zur Folge sind Manager*innen und Angestellte übrigens ins Home Office geflohen, was ein Eingeständnis der Gefahren an den Standorten ist. Diese Option steht den Arbeiter*innen auf dem shopfloor freilich nicht offen.
Die weltweiten Lohnerhöhungen um 2$, 2€ oder 4 Złoty sowie der 100% Überstunden-Bonus sind für Menschen, die im Niedriglohnsektor arbeiten immer willkommen, insbesondere wenn möglicherweise die Einkommen der Partner*innen oder aus Zweitjobs wegbrechen. Auch diese Erfahrungen teilen Arbeiter*innen weltweit. Allerdings gelten diese Sonderzahlungen nur bis zum 30. April. Sie stellen außerdem nach Auffassung von Beschäftigten einen indirekten Gesundheitsbonus dar. Sie führen bereits dazu, dass sich Menschen krank zur Arbeit schleppen. Hierunter waren in den USA, Frankreich, Italien, Polen, Spanien und Deutschland schon Fälle von COVID-19. Aber es gibt auch noch andere ansteckende Krankheiten. Amazon braucht jede*n, um die gestiegene Nachfrage zu bedienen. Weltweit sind Neueinstellungen geplant.

Arbeitskämpfe während der Pandemie

Dieser Bonus stellt nicht nur eine Reaktion auf die weltweit hohen Krankenstände bei Amazon-Belegschaften dar, sondern er ist auch eine Reaktion auf befürchtete Auseinandersetzungen. Auf der ganzen Welt wehrten sich Arbeiter*innen nicht nur dagegen, dass sie und ihr Umfeld durch die Arbeit in den Warenlagern einer Gefahren ausgesetzt werden, sondern auch dagegen wie der Konzern mit Kranken, Risikogruppen und Menschen umgeht, die Kinder und Angehörige pflegen müssen. Hierzu zwei Beispiele: Erstens: Trotz des hohen Risikos erhalten Angehörige von Risikogruppen nur dann eine bezahlte Freistellung, wenn sie unter Quarantäne stehen. Zweitens: In Deutschland erhalten Eltern nur für fünf Tage eine bezahlte Freistellung, obwohl das Datum der Wiedereröffnung der Schulen offen ist. Die AWI verfasste eine Erklärung, woran wir als Streiksolibündnis beteiligt waren. (1) Unsere Hauptforderung besteht darin, alle Warenlager bei vollem Lohnausgleich zu schließen. Allerdings könnte auch ein Zwischenschritt sein, dass sich Amazon auf die lebensnotwendigen Güter in der Auslieferung beschränkt. Das heißt, dass vorerst keine Bowlingkugeln, singende Gewürzgurken, Schwimmflügel oder Sextoys mehr ausgeliefert werden. Doch es blieb nicht bei Erklärungen. Bei Streiks in Italien und New York wurde die Schließung der Warenlager gefordert, nachdem Fälle einer Infektion bekannt wurden. Streiks in Frankreich und Chicago forderten einen besseren Gesundheitsschutz für die Beschäftigten. Amazon ging erwartungsgemäß mit harter Repression gegen die Streiks vor. Der vermeintliche Streikführer des wilden Streiks in New York, Christian Smalls, wurde wegen angeblicher Missachtung der COVID-19-Sicherheitsvorkehrungen entlassen.
In Deutschland versuchen ver.di-Betriebsräte gegenwärtig die Kolleg*innen auf dem shopfloor zu unterstützen. Hierbei ist zu erwähnen, dass das Verhältnis zwischen Amazon und Betriebsräten konflikthaft ist. An dem Standort in Leipzig klagte Amazon in diesem Jahr erfolgreich auf die Auflösung und Neuwahl der Betriebsräte. Hierdurch werden der Arbeit der Interessensvertretung Steine in den Weg gelegt. Verschiedene Maßnahmen bezüglich des Gesundheitsschutzes unterliegen der Mitbestimmungspflicht durch Betriebsräte. Sie müssen darauf achten, dass die Gesundheitsschutzmaßnahmen konform mit dem Arbeiterrechten gehen und nicht gegen die Interessen der Belegschaften eingeführt werden.
Streiks blieben in Deutschland bisher aus. Streiks für eine Schließung der Werke aufgrund der großen Gefahr für die Gesundheit oder für einen Schutz der Arbeiter*innen erscheinen im Augenblick aus mehreren Gründen unrealistisch. Erstens: Die Gewerkschaften rufen momentan vor dem Hintergrund gesundheitlicher Risiken und der Einschränkung des Versammlungsrechts im Zuge der Kontaktsperre-Gesetzgebung nicht zu Streiks auf. Die Gewerkschaften sollten hier rechtliche Klarheit schaffen und auf die Garantie des Streik- und Versammlungsrechtes pochen. Die Karte des Streiks sollten sie gerade in Zeiten in denen neben der Gesundheitskrise eine Wirtschaftskrise bevorsteht, immer ausspielen können, um Entscheidungen zuungunsten der Arbeiter*innen verhindern zu können. Die Pandemie wird voraussichtlich erst im Sommer ihren Höhepunkt erreichen. Es könnte fatal sein, mit Arbeitskampfmaßnahmen solange zu warten, bis sie vorüber ist. Bilder von den Streiks bei Saran und Lauwin-Planque Mitte März zeigen, dass der Sicherheitsabstand bei Streikversammlungen gewahrt werden kann. Zu diesem Streik riefen auch Gewerkschaften auf. Weiterhin kann in dieser Ausnahmesituation auf eine Präsenz vor dem Werkstor durch eine Streikversammlung verzichtet werden. Zweitens: Auch in der Belegschaft herrscht eine Spaltung in der Frage, weil die Arbeiter*innen nicht nur um den oben erwähnten Gesundheitsbonus oder gar die volle Lohnfortzahlung bei Betriebsschließung fürchten, sondern auch weil viele in den Belegschaften, wie wohl auch in der Gesamtbevölkerung, die gegenwärtigen Sicherheitsmaßnahmen bezüglich der Pandemie für übertrieben halten.

Steigende Arbeiter*innenmacht in der Gesundheitskrise

Uns stellt sich in der derzeitigen Lage eines steigenden Bestellvolumen die Frage, ob die Situation nicht für Streiks für einen Tarifvertrag und bessere Arbeitsbedingungen genutzt werden sollte oder wenigstens für die Erhaltung des COVID-19-Bonus über die Krise hinaus. Momentan wird sehr deutlich wie wichtig Arbeiter*innen im Gesundheitswesens, Landwirtschaft und dem Einzelhandel für das Überleben der Gesellschaft und der Menschen sind. Auch in Bezug auf Amazon wurde schon die Frage aufgeworfen, ob das Unternehmen systemrelevant sei. Allerdings bleibt offen, inwieweit diese Sympathien nach der COVID-19-Pandemie, wenn aufgrund sinkender Bestellvolumen die Durchsetzungsmacht abnimmt, in bessere Arbeitsbedingungen umschlagen werden. Zumindest bei Amazon wäre unserer Einschätzung nach jetzt der Zeitpunkt, um bessere Arbeitsbedingungen zu erkämpfen. Vielleicht müssen dafür auch neue Kampfformen unter den neuen Bedingungen ausprobiert und entdeckt werden, um die Arbeitsbedingungen während und nach der Krise zu verbessern. Wir wünschen den Arbeiter*innen, dass sie gesund bleiben oder die Pandemie sie und ihre Umfeld nicht so hart trifft!

Streiksolibündnis Leipzig

Streiksolibündnis Leipzig: Wir begleiten bereits im 7. Jahr den Arbeitskampf bei Amazon. Wir sind Wissenschaftler*innen, Erwerbslose und selbst Amazon-Beschäftigte. Wir unterstützen hierbei die Streikenden in der Öffentlichkeitsarbeit und der transnationalen Vernetzung. Diese mündete in der Gründung der AWI (Amazon Workers International) Mitte März 2020 in Madrid, wobei es sich um einen Zusammenschluss von Amazon-Beschäftigten und Unterstützer*innen aus Europa und den USA handelt. Da wir aber keine Kontakte in die Warenlager des Trikont wie in Japan oder Indien haben, sind unsere Einblicke leider stark begrenzt.

Anmerkungen:

(1) https://amworkers.wordpress.com/2020/03/
24/amazon-workers-international-erklarung-in-zeiten-der-corona-virus-pandemie/)