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Die Kappung der Demokratie 1920

Abscheuliches Taktieren, Wortbrüche, Betrug

| R@lf G. Landmesser, LPA Berlin

Klaus Gietinger: KAPP-PUTSCH – 1920 / Abwehrkämpfe / Rote Ruhrarmee, Schmetterling Verlag, Stuttgart 2020, 328 Seiten, 19,80 Euro, ISBN 3-89657-177-X

Ein Jahrhundertereignis, das den Nazi-Faschismus ankündigte und in dem erstmalig klassen- und parteiübergreifend ein faschistoider Militärputsch gegen die neue Demokratie der sogenannten Weimarer Republik mittels allgemeinem Generalstreik abgewehrt wurde, ging im März des Jahres 2020 im Jahrhundertereignis der CoViD19-Pandemie sang- und klanglos unter. Dabei ist der Kapp-Lüttwitz-Putsch der Dreh- und Angelpunkt, der über Republik oder Diktatur entschied, über Reaktion oder soziale Revolution, über Frieden oder Krieg.

Der Historiker Klaus Gietinger, Spezialist für die Umbruchzeit in der Folge des Ersten Weltkrieges, nimmt in seinem Buch akribisch die Spur der Frauen und Männer auf, die sich dem weder anhaltenden, noch innehaltenden, bis an die Halskrause bewaffneten Militarismus Preußischer Dressurart, beherzt und mit mehr Mut als Waffen entgegenstellten. Gerade erst um die Revolution betrogen, von einer intriganten und hurrapatriotischen, weitgehend kaisertreuen (M)SPD-Führungsriege, stellten sich Massen von Menschen aller Schichten, bis hin ins knorzig-konservative deutsche Beamtentum, dem Militär entgegen, das jegliche revolutionär-demokratische Regung und die Weimarer Regierung zerschlagen wollte. Noch waren die Kadaver der zahmen Novemberrevolution nicht in Fäulnis übergegangen, noch rauchte das Blut der Kapp-Gegner, als die gerade erst durch Generalstreik im Deutschen Reich gerettete SPD-Nomenklatura, die Truppen, die eben noch gegen sie geputscht hatten, gegen ihre Retter*innen, die Rote Ruhrarmee und die Milizen in Thüringen und anderswo schickte. Insbesondere die Freikorps, eine zusammengewürfelte Truppe von Söldnern und reaktionären Offizieren des Ersten Weltkriegs, zeichnete sich, teils schon mit Hakenkreuz am Stahlhelm, durch äußerste Brutalität und Mordlüsternheit aus. Nicht zufällig gingen nicht viel später aus diesen Einheiten viele SA- und SS-Kader der neuen Nazi-Partei hervor, die, als Gewohnheitskriegsverbrecher,    Mordskerle bei SD, Wehrmacht und SS-Verbänden wurden.

Klaus Gietinger liefert in seinem Buch dazu ausgezeichnetes Quellenmaterial, mit Fundstellenverzeichnis, Äußerungen von Zeitzeug*inn*en, Aufmarschplänen, einer Chronik der Ereignisse, vielen Fotos (leider oft schlechter Qualität), Statistiken und Einzelschicksalen. Er führt uns vor Augen, wie die verschiedenen Konstellationen von SPD-Parteichargen, Revolutionär*inn*en, Militär und Paramilitärs zusammen- oder gegeneinander wirkten und erschließt uns damit nachvollziehbar die Zusammenhänge des Geschehens. Das teils schon zuvor für andere seiner Bücher zusammengetragene Quellenmaterial offeriert eine erschlagende Beweiskraft gegen die taktierende und verräterische Leitung der Sozialdemokratie, die teils offen mit der nicht aufgelösten OHL (Oberste Heeresleitung – dem Generalstab des Ersten Weltkriegs) kooperierte. Friedrich Ebert stimmte gar hinter den Kulissen zu, nach einem erfolgreichen Militärputsch als Pappmaché-Diktator an die Spitze der Reichsregierung zu treten (was er später abstritt). Herausgehoben wird die Figur des „Schlächters“ Noske illustriert, wie dieser erst, weit über das alte Preußische Standrecht hinausgehend, durch einen uneingeschränkten Schießbefehl das folgende Gemetzel legitimiert und legalisiert. Sogar einzelne Mörder nimmt der unter seine Fittiche. Das brachte dieser „deutschen Eiche“ sogar den Respekt der späteren Nazis ein. Gietingers „Steckenpferd“ ist die Figur des Hauptmanns Waldemar Papst, der als zentraler Strippenzieher, im Kontrast zu seinem niedrigen Rang, eine zentrale Organisationsrolle der reaktionären Kräfte spielt – und dennoch am Ende als Loser dasteht. Auf diesen Papst geht übrigens das heute existierende Technische Hilfswerk (THW) zurück, das damals unter seiner Regie als paramilitärische Truppe aufgestellt wurde, um die militärischen Restriktionen der Siegermächte zu unterlaufen.

In ihrer Panik vor russisch-bolschewistischen Zuständen, die die rückblickend recht handzahmen deutschen Revolutionär*innen vermeintlich herbeiführen könnten, war dem politischen Klüngel unter (noch) SPD-Führung alles recht, die soziale Revolution und die von unten vehement geforderte Neutralisierung des Preußischen Militarismus zu unterlaufen und dem Willen der Massen das Wasser abzugraben. Ruhe und Ordnung hieß die vorderste Devise, auch wenn damit Militär und Kapital wieder in den Sattel gehoben wurden und unter deren Hufschlägen weiter Arbeiter*innen starben. So wurde es eine wackelige Friedhofsruhe und die Ordnung der Konzerne und Junker, die kräftig Militär und Reaktion hinter den Kulissen finanzieren.

Das Beweis- und Faktenmaterial, mit dem Gietinger aufwartet, ist so erschlagend, dass eine stilistische Marotte des Autors oft ärgerlich ins Auge springt, wenn er immer wieder sarkastische Bemerkungen in seine sonst sehr lesbaren und meist objektiv richtigen Ausführungen einflicht. Die geschilderten Barbareien, Hintergehungen, Wortbrüche, das politische Taktieren und der darauf folgende Betrug aus vermeintlicher Staatsraison an den oft „ihrer SPD“ noch treu ergebenen Arbeiter*innen, sind so drastisch und menschlich abscheulich, dass es dieser zynisch-sarkrastischen Einwürfe gar nicht dazu bedurft hätte, dass mensch sich angewidert vom politischen Macht- und Ränkespiel und vor Ekel gegen die damalige politische Führung schüttelt. Nicht lange, so war es denn auch mit der SPD als regierender Partei vorbei und die Phase des aufsteigenden Faschismus und die der Polarisierung mit der moskaugelenkten KPD begann.

Ein weiteres Manko des an sich ausgezeichneten Buches ist, dass Gietinger die herausragende Rolle unterschlägt, die die neu gegründeten Anarchosyndikalist*innen (FAUD) und ihre Sympathi-sant*innen bei der Initiierung des Generalstreiks, im folgenden Abwehrkampf und im Konflikt mit der militaristischen KPD in der (Schwarz-)Roten Ruhrarmee gespielt haben. Infolge gab es den Unvereinbarkeitsbeschluss von KPD und FAUD. Die weitgehende Ausblendung von libertären Akteur*innen ist leider auch in anderen, sonst lesenswerten Gietinger-Büchern zu beobachten.

Dennoch ein wichtiges, die Augen öffnendes Buch, das eigentlich in alle Schulen gehört, um das Verständnis für die geschichtlichen Abläufe und Folgen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu wecken.