„Anarchopazifistisch. Schon das Wort sprengt mir den Kopf“

Der andere Blick, die Medien und 50 Jahre Graswurzelrevolution

| Bernd Drücke

Im Sommer 1972 hat Wolfgang Hertle in Augsburg die Nullnummer der Graswurzelrevolution (GWR) herausgebracht. 50 Jahre später ist die Monatszeitung für eine gewaltfreie, herrschaftslose Gesellschaft immer noch quicklebendig. Doch wie sieht die mediale Öffentlichkeit die GWR? Die Presseschau von Mitherausgeber Bernd Drücke geht auf einige der jüngsten Veröffentlichungen ein. (GWR-Red.)

Der 50. Geburtstag wurde vom 26. bis 29. Mai 2022 im Rahmen der VI. Anarchistischen Buchmesse in Mannheim gefeiert (1). Ein wunderbares Fest der Anarchie! Im Anschluss wurde über die GWR in diversen Medien berichtet.

„Konsequente Gewaltfreiheit“

Die tageszeitung hat wenig Skrupel, ihre Seiten auch mit Bundeswehr-Werbung und Kriegspropaganda zu füllen. So forderte Udo Knapp in der taz vom 18.7.2022 unter dem Titel „Gibt der Westen auf?“, dass „die NATO mit eigenen Bodentruppen die völkerrechtswidrig in die Ukraine eingedrungene Armee Putins zurückschlagen muss“. Hätte die NATO auf ihn gehört, befänden wir uns wohl schon im Dritten Weltkrieg, und Atomraketen würden über Europa niederprasseln. Mit Friedensjournalismus im Sinne Johann Galtungs (2) hat eine solch kriegslüsterne Schreiberei nix gemein.
Umso erfreulicher ist es, dass die taz die GWR am 7.6.2022 sachlich und mit Sympathie gewürdigt hat (3). Die GWR wolle Gewaltfreiheit und libertären Sozialismus verbinden; sie stehe für „konsequente Gewaltfreiheit – auch der Ukrainekrieg ändert daran nichts“, so die taz. Die Überschrift „Zeitung ‚Graswurzelrevolution‘ wird 50: Pazifismus als Markenkern“ bringt es auf den Punkt.
Im Gegensatz zu einem Großteil der Friedensbewegung habe die GWR nicht nur gegen eine weitere Aufrüstung agiert, sondern immer auch jegliche Gewalt abgelehnt, egal ob sie von staatlichen Organen oder von politischen Gruppierungen ausgeht. „Damit standen sie schnell im Visier der Staatsapparate, die gegen die gwr-AutorInnen unter anderem wegen Aufruf zu Blockaden oder Desertionsaufforderungen an Soldaten ermittelten. Auch in Teilen der radikalen Linken machten sich die gewaltfreien AnarchistInnen keine Freunde. Schließlich wurden in der gwr die Aktionen der RAF ebenso kritisiert wie manche militanten Scharmützel von Autonomen mit der Polizei. Dagegen propagierten die GraswurzlerInnen Aktionen des zivilen Ungehorsams, wie Besetzungen und Blockaden. (…) Der Pazifismus der Zeitung könnte aktueller kaum sein: Nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine kommen PazifistInnen auch in linken Kreisen unter Druck.“ Politisch bewege sich die GWR „auf der Höhe der linken Debatte“.

Alternativen zum Bellizismus

Ähnlich positiv berichteten am 13.6.2022 auch das Neue Deutschland unter dem Titel „Gegen Gewalt, für Emanzipation von unten“ (4) und am 16.6.2022 Peter Nowak mit dem Interview „Zucker in den Tank überall“ auf freitag.de (5). Am 4.8.2022 führte „99 zu Eins“ ein Live-Interview mit mir zur GWR und zum anarchistischen Antimilitarismus (6). „In Zeiten, in denen selbst die Grünen einen bellizistischen Kurs fahren, ist es wichtig, sich auch mit radikalen Gegenentwürfen zu beschäftigen“, so Nadim und Daniel, die beiden Macher dieses youtube-Podcasts.
Auch frühere Mitstreiter*innen bezogen sich positiv auf die gewaltfrei-anarchistische Monatszeitung. Michael Schroeren war in den 1970ern GWR-Redakteur, bevor er ab den 1980ern Pressesprecher der Grünen und später des Bundesumweltministeriums unter Jürgen Trittin (Grüne) und Sigmar Gabriel (SPD) wurde. In der taz vom 19.8.2022 antwortete der 72-Jährige auf die Frage, warum er gegen AKWs protestiert habe: „Ich war Pazifist und arbeitete bei der Zeitschrift Graswurzelrevolution. Die gibt es heute noch, sehr lesenswert. Wir interessierten uns brennend für soziale Bewegungen und gewaltfreien Widerstand. Uns faszinierte, wie ein zunächst lokaler Protest sich zu einem gewaltfreien Aufstand ausweitete.“ (7)

„Ich fand nichts doof“

Toll ist es, wenn frühere Leser*innen, die die GWR lange aus den Augen verloren hatten, wieder auf sie stoßen. So schrieb Klaus N. Frick, Punk-Autor und Redakteur der Science-Fiction-Serie Perry Rhodan, auf seinem Blog ENPUNKT-Tagebuch (8) am 13.6.2022: „Dieser Tage las ich es in der Zeitung: Es gibt die Zeitschrift ‚Graswurzelrevolution‘ noch, und sie ist sage und schreibe fünfzig Jahre alt geworden. Ich hatte sie schon verdrängt und freute mich sehr über diese Nachricht. Dabei war ich vor vielen Jahren ein fleißiger Leser der ‚gwr‘, wie man die Zeitschrift abkürzen kann. Zu Beginn der 80er-Jahre abonnierte ich sie (…). Ich sah mich selbst als Anarchisten, und ich wollte mehr über den Anarchismus, seine Hintergründe und vor allem auch mögliche Lehren aus der anarchistischen Literatur ziehen. Ob mir das damals gelang, weiß ich heute nicht mehr.“
Spannend liest sich auch Fricks Zusammenfassung der für ihn und sein Umfeld zentralen Aspekte: „Die ‚gwr‘ hatte sich den sozialen Widerstand auf die Fahnen geschrieben, sie war einem absoluten Pazifismus verpflichtet, und sie hielt sich aus keinem Konflikt heraus, kritisierte nicht nur – wie bei den Linken ja üblich – das Vorgehen der Vereinigten Staaten, sondern ebenso das der Sowjetunion. (…) Sie fand in der damaligen Science-Fiction-Szene, in der ich mich bewegte, Anklang: In der Interessenvereinigung Science Fiction, in der ich Mitglied war, gab es die RAGS, (…) in der man über Graswurzelthemen diskutierte.“
Offenbar haben sich weder der frühere Leser noch die Zeitung in der Zwischenzeit allzu stark verändert – oder wenn, dann in ähnlicher Weise: „Ich weiß nicht mehr, warum damals mein Abonnement der Zeitschrift auslief. Es gab keinen Streit, ich fand nichts doof. Womöglich lag es schlicht an der Zeit: Ich konnte und kann schließlich nicht alles lesen, was mich interessierte und interessiert. Schön, dass es die ‚Graswurzelrevolution‘ noch gibt! Ich habe mir den Internet-Auftritt der Zeitschrift angesehen, an dem mir vieles gefallen hat, und habe nun auch den Newsletter abonniert. Damit werde ich über neue Ausgaben und Bücher informiert; da werde ich wohl öfter vorbeischauen.“
Super! Vielleicht kann er sich ja auch zu einem GWR-Abo durchringen? Denn die GWR wird immer noch durch ihre Abonnent*innen finanziert.

„Eine Kunstinstallation“

Ein GWR-Abo möchte ich auch dem Schriftsteller Alexander Osang empfehlen. Im Spiegel Nr. 26 vom 25.6.2022 erschien auf Seite 58 seine Kolumne „Simba in Sibirien“. Dort beschreibt er, wie er in Berlin in der U-Bahn-Station auf die GWR gestoßen ist: „Am Zeitungskiosk auf dem Bahnsteig hing ganz oben die ‚Rote Fahne‘, darunter eine Zeitung namens ‚Graswurzelrevolution‘ und auch die russische Zeitung ‚Refakzija Berlin‘. Mein erster Gedanke: eine Kunstinstallation. Über ‚Graswurzelrevolution‘ las ich später, ihre Haltung sei anarchopazifistisch. Sie müssen lockerer werden, hatte mir mein Osteopath aufgetragen. Anarchopazifistisch. Schon das Wort sprengt mir den Kopf.“
Als das heißeste Wochenende des Jahres zu Ende ging, sei im Fernsehen alles wie immer gewesen, so Osang weiter. Man könne „deutsche Talkshows zu unserer Verantwortung im russischen Angriffskrieg besuchen wie Gottesdienste der katholischen Kirche“. Es sitze immer dieselbe Runde zusammen. „Ein Skeptiker und vier Panzerfans.“
Am Ende seines Artikels schreibt der Journalist: „Ich würde mir – wenigstens einmal – eine Talkrunde wünschen, in der zwei Anarchopazifisten, eine russische Opernsängerin, ein Bundeswehrinvalide und Henry Kissinger auf einen der neuen Waffenexperten der Grünen treffen. Damit der seine Argumente mal im Gegenwind prüfen kann. Und ich meine.“
Ob Maybrit Illner, Anne Will und Co. diesen Wunsch erfüllen werden? Das muss in Zeiten des Kriegspropaganda-Journalismus bezweifelt werden.
Aber ich kann Herrn Osang empfehlen, sich den Mitschnitt der Podiumsdiskussion „Gewaltfreiheit in Zeiten des Krieges“ (9) anzugucken. Vielleicht die interessanteste „Talkshow“ zum Russland-Ukraine-Krieg 2022! Sie fand am 26. Mai 2022 im Rahmen der Anarchistischen Buchmesse in Mannheim statt. Auf dem Podium saßen Moderator Joel Wardenga, GWR-Mitherausgeber Lou Marin, Hanna Poddig, Michael Wilk und die Filmschaffende und Transgenderaktivist*in Samir*a, die 1999, während des NATO-Angriffskriegs gegen die damalige Bundesrepublik Jugoslawien, den grünen Bundesaußenminister Joseph Fischer mit einem roten Farbei markiert hatte.
Damit Herr Osang sich intensiver mit graswurzelrevolutionären Positionen beschäftigen kann, werde ich ihm zu Händen die bisher zum Ukraine-Krieg erschienenen GWR-Ausgaben 468, 469, 470, 471 und 472 an die Spiegel-Redaktion schicken.

Viel Spaß beim Lesen, Anarchie und Glück!