Tötungen und Verletzungen im behördlichen Dunkelfeld

Polizeigewalt gegen Geflüchtete

| Antirassistische Initiative Berlin

„Nur ein Einzelfall!“ – Dieser Satz ist zum Inbegriff der Verharmlosung und Vertuschung struktureller Probleme im Polizeiapparat geworden. Denn wenn es nach Politiker:innen, Polizeigewerkschaften und vielen Medien geht, handelt es sich bei rassistischen Übergriffen und tödlicher Gewalt durch Beamt:innen um bedauerliches Versagen Einzelner – obwohl die angeblichen Einzelfälle kaum mehr zu zählen sind und der Zusammenhang mit gesellschaftlichem Rassismus unübersehbar ist. Die Antirassistische Initiative Berlin hat ihre Recherchen zu Polizeigewalt gegen Geflüchtete für die Graswurzelrevolution zusammengefasst und zeigt die erschreckende Systematik auf. (GWR-Red.)

Am Nachmittag des 8. August 2022 sitzt der 16-jährige Mouhamed Lamine Dramé allein – den Rücken zur Kirchenmauer – auf dem Hof des katholischen Pfarramtes St. Antonius in Dortmund-Nordstadt. Er hält ein Messer in der Hand und bewegt es immer wieder gegen seinen Leib – sein Kopf ist gesenkt. Der Betreuer der Jugendhilfeeinrichtung macht sich Sorgen um den psychisch angeschlagenen Geflüchteten, ruft die Polizei und bittet um Hilfe wegen der eventuellen suizidalen Absichten des Senegalesen.
Elf Beamt:innen erscheinen und sprechen den Jugendlichen an, der allerdings in seiner Haltung verharrt. Erst als sie ihn mit Pfefferspray attackieren, springt er auf. Es werden noch zwei Taser-Metalle auf seinen Körper abgeschossen – danach folgt eine Salve von sechs Schüssen aus einer Maschinenpistole. Von fünf Projektilen getroffen bricht der Junge zusammen; er stirbt später im Krankenhaus.

Die tödlichen Schüsse in Dortmund erregten tagelang Aufsehen – andere Fälle werden kaum wahrgenommen. Die Antirassistische Initiative Berlin (ARI) belegt in ihrer gerade erschienenen aktualisierten Dokumentation „Bundesdeutsche Flüchtlingspolitik und ihre tödlichen Folgen“, dass in den vergangenen 29 Jahren mindestens 1.349 geflüchtete Menschen durch Gewaltanwendungen von Polizist:innen und Bewachungspersonal verletzt wurden – für mindestens 31 Menschen endete diese Gewalt tödlich.

Rassistische Normalität

Grundlegende Ursache für Gewalt von Polizeibeamt:innen gegen People of Color ist der strukturelle und gesellschaftliche Rassismus in Deutschland.
Geflüchtete sind polizeilichen Aktionen durch ihre weitgehende Entrechtung in besonderem Maße ausgesetzt. Seien es sprachliche Barrieren, seien es Orte der Isolation – Haftzellen, Flüchtlingslager oder Abschiebeflugzeuge –, in denen Gewaltanwendungen auf der Tagesordnung stehen und im Verborgenen bleiben.
Auch der öffentliche Raum ist für People of Color nicht sicher. Jede polizeiliche Kontrolle (Racial Profiling) kann besonders für Geflüchtete zur existenziellen Krise führen. Die Angst vor Festnahme oder Abschiebung schlägt in Panik um und kann unmittelbar eine psychische Krise auslösen. Bei Menschen, die durch Krieg, Folter, Flucht traumatisiert sind, kann es in Gegenwart mehrerer bewaffneter Uniformierter zu Verzweiflungstaten kommen: Flucht oder Angriff – das ist die Frage, und beides kann lebensgefährlich werden.

Robo-Cops statt Psycholog:innen

Der Großteil der Menschen, die durch Polizeigewalt verletzt oder getötet werden, befinden sich schon vorher – deutlich erkennbar – in psychisch schwierigen Situationen. In den meisten Fällen erhält die Polizei schon beim eingehenden Notruf Informationen, die eindeutig auf eine psychische Ausnahmesituation hinweisen. Kritische Kriminolog:innen raten seit Langem dringend, zu solchen Einsätzen eine psychologische Fachkraft – gegebenenfalls auch Sprachmittler:innen – mitzunehmen, die den Kontakt zu der Person aufnehmen können.
Das Aufmarschieren einer Gruppe bewaffneter Uniformierter wirkt dagegen in der Regel eskalierend – deshalb sollten diese sich zunächst sehr zurückhalten. Das allerdings passiert in den wenigsten Fällen. Mit Western-Mentalität fühlen sie sich beauftragt und berufen, die Situation sofort und mit Gewalt zu lösen: Hetzjagden, Festnahmeversuche, auch mit Schlagstöcken, Pfefferspray und/oder Taser-Schüssen. Alles Einsatzmittel, von denen bekannt ist, dass sie bei Menschen in akuten Belastungssituationen keine Wirkung haben, sondern nur das Bedrohungsszenario für die Betroffenen erhöhen.

Schuldumkehr als Standardstrategie

Wenn dann Schüsse aus Dienstwaffen fallen, werden die Tötungen oder schweren Verletzungen von polizeilicher Seite grundsätzlich mit „Notwehr“ gerechtfertigt, denn durch Schuldumkehr ist es leicht, die Betroffenen zu kriminalisieren und einzuschüchtern und sie – wenn sie überleben – mit Anzeigen wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt und/oder Körperverletzung vor Gericht zu stellen.
Entsprechend des so genannten Neutralitätsgebotes übernehmen bei schwerwiegenden Fällen von Polizeigewalt Behörden anderer Städte die Ermittlungen. Das sieht im Fall der oben geschilderten Erschießung des 16-jährigen Senegalesen dann so aus, dass die Polizei Recklinghausen die Ermittlungen gegen die Dortmunder Kolleg:innen übernimmt. Da es in Recklinghausen bei einer Festnahme auch gerade einen Todesfall gab, übernimmt die Polizei Dortmund die Untersuchungen gegen die Kolleg:innen aus Recklinghausen.
Diese kollegiale Nähe innerhalb einer Struktur erklärt die immer gleichlautenden Ermittlungsergebnisse der Vergangenheit, die besagen: Das Opfer war der Täter!

Filz und Repression

Obwohl Staatsanwaltschaft und Polizei unterschiedlichen Ministerien unterstellt sind (Justiz bzw. Inneres), kommt es auch bei der Staatsanwaltschaft, durch die Abhängigkeiten bei der täglichen Zuarbeit von der Ermittlungsbehörde Polizei, zu gemeinsamen Interessenlagen. Das Resultat: Staatsanwält:innen glauben im Falle von Aussage gegen Aussage in der Regel den Polizist:innen.
Neben dieser institutionellen Nähe von Staatsanwaltschaft und Polizei ist auch die Berufskultur, der Corpsgeist, im hierarchisch-militärischen Polizeiapparat bei der Wahrheitssuche von entscheidender Bedeutung, wenn die Ermittlungen gegen Kolleg:innen gehen. Fast gleichlautende Aussagen der Beamt:innen in Protokollen und vor Gericht sind die Folge. Personen, die diese „Mauer des Schweigens“ durchbrechen, indem sie – der Wahrheit zuliebe – auch gegen Kolleg:innen aussagen, werden umgehend zu „Nestbeschmutzer:innen“, „Verräter:innen“, zum „Kollegenschwein“ und dann mit der Mobbingwelle weggeschwemmt, versetzt oder bitten selbst um Versetzung.
Die Forschungsgruppe KViA-Pol um den Kriminologen Tobias Singelnstein (Ruhr-Universität) analysiert die Fälle polizeilicher Körperverletzung im Amt und betont, dass es im Umgang mit Anzeigen zum Thema „rechtswidrige Gewaltausübung von Polizeibediensteten“ von Seiten der Staatsanwaltschaft auffallend hohe Einstellungsquoten, aber erstaunlich niedrige Anklagequoten gibt. Im Jahre 2018 wurden 94 Prozent der Anzeigen „mangels hinreichenden Tatverdachts“ eingestellt – in nur zwei Prozent kam es zu einer Anklage. (1)
Sehr viele Betroffene zeigen Gewalttätigkeiten durch Polizist:innen aufgrund eigener schlechter Erfahrung und aus Angst vor Gegenanzeigen ohnehin gar nicht erst an. Diejenigen, die sich entscheiden, sich gegen das Unrecht zu wehren, müssen damit rechnen, dass ihre Anzeige in der Polizeiwache gar nicht erst aufgenommen wird oder dass sie durch verbale rassistische Attacken so eingeschüchtert werden, dass sie die Anzeige zurücknehmen. Singelnstein schätzt, dass es etwa fünfmal mehr Fälle rechtswidriger Polizeigewalt gibt, als aktuell bekannt werden.

Kontrolle der Exekutive

Die Polizeigewerkschaften und das konservative Lager schaffen es immer wieder, die Einführung unabhängiger Überwachungsgremien zu verhindern. Damit sind Einrichtungen gemeint, deren Mitarbeiter:innen – unabhängig von der Ermittlungsbehörde Polizei – selbst Tatortarbeit machen, Zeug:innen vernehmen und Durchsuchungen anordnen können.
Stattdessen gibt es inzwischen „unabhängige“ Polizeibeauftragte in Schleswig-Holstein, Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz, die keinerlei Ermittlungskompetenz haben und nur Fragen stellen und Akten einsehen dürfen. Das sind unwirksame Alibi-Veränderungen – das System der Willkür, Lügen und der „Vetternwirtschaft“ bleibt unberührt.
Nur selten gelingt es, Licht in dieses behördliche Dunkelfeld zu bringen. Bei Oury Jalloh, der 2005 in der Dessauer Polizeizelle verbrannte, konnte die anfängliche offizielle These „Suizid“ nur durch jahrelanges und größtes Engagement der „Initiative in Gedenken an Oury Jalloh“ widerlegt und der Mord bewiesen werden.
Andere Todesfälle – wie die polizeiliche Erschießung von Hussam Fadl Hussein im September 2016 in Berlin, die Verbrennung des irrtümlich in Haft sitzenden Amad Ahmad in Kleve im September 2018 oder auch der angebliche Suizid von Rooble Warsame in einer Polizeizelle in Schweinfurt im Februar 2019 – lassen durch ihre Widersprüchlichkeit große Zweifel an den offiziellen Darstellungen aufkommen.
Im Ergebnis werden die direkten Täter:innen und diejenigen im Umfeld, die die Katastrophe zu verantworten haben, nie wirklich zur Rechenschaft gezogen. Das Leid und die Demütigung bleiben auf der Seite der Opfer.

(1) vgl. Laila Abdul-Rahman, Hannah Espín Grau, Tobias Singelnstein: „Die empirische Untersuchung von übermäßiger Polizeigewalt in Deutschland“, in: Kriminologie Online-Journal, Vol. 1, Issue 2, 2019, S. 231–249; hier: S. 233

Die Dokumentation der Antirassistischen Initiative „Bundesdeutsche Flüchtlingspolitik und ihre tödlichen Folgen“ umfasst in ihrer 29. Auflage über 17.000 Geschehnisse, bei denen Geflüchtete körperlich zu Schaden kamen. Das Spektrum der dort festgehaltenen Gewalttaten ist breit: Sie geschehen während und nach Abschiebungen, bei Grenzüberquerungen, in den Lagern und im öffentlichen Raum. Auch Verzweiflungstaten aus Angst vor Abschiebung wie Suizide, Suizidversuche und Selbstverletzungen sind dokumentiert.
Die Dokumentation erscheint jährlich als Druckausgabe, in der die Geschehnisse chronologisch dokumentiert sind (4 Hefte, 1400 Seiten). Zudem gibt es seit einigen Jahren die Web-Dokumentation, eine Datenbank und Suchmaschine, mit der nach vielen Kriterien gezielt recherchiert werden kann.

www.ari-dok.org/webdokumentation/