Die Intersektionalität von Privilegien

Von Rassismus, Schönheitsnormen und der Abschaffung der Lohnarbeit

| Franziska Wittig

Emilia Roig: Why We Matter: Das Ende der Unterdrückung. Aufbau Verlag, Berlin 2021, 397 Seiten, 22,00 Euro, ISBN 978-3-351-03847-2

In ihrer umfangreichen Streitschrift „Why We Matter“ beschäftigt sich Emilia Roig nicht nur damit, wie gesellschaftliche Strukturen von Rassismus, Sexismus und anderen Formen der Diskriminierung durchzogen sind, sondern legt auch ihre Utopie einer gerechteren Welt dar.
Anhand ihrer eigenen Familiengeschichte, in der französische Kolonien, Sklaverei, afrikanische und indische Wurzeln, eine jüdische Großmutter und ein rechtsextremer Großvater eine Rolle spielen, zeigt die in Deutschland lebende Französin die Komplexität rassistischer Diskriminierungen innerhalb und außerhalb von Familien auf. Dabei wird deutlich, dass sich Liebe für Angehörige und rassistische Verhaltensweisen diesen gegenüber nicht ausschließen. Auch ihre Ausführungen zu Patriarchat, Zwangsheteronormativität und Schönheitsnormen untermauert Roig mit Beispielen aus ihrem eigenen Leben. Sie erläutert, dass vielen Menschen, die der gesellschaftlichen Norm angehören, ihre Privilegien nicht bewusst sind, da sie sich nie klargemacht haben, dass andere Menschen nicht dieselben „Joker“ bekommen haben.
Die Autorin beschreibt Diskriminierung immer mit Blick auf die Historie, aber auch deren jeweilige aktuelle institutionelle Einbettung. In Hinblick auf Bildungseinrichtungen entlarvt sie den Mythos der Chancengleichheit. Sie beschreibt, wie Medien die Empathielücke gegenüber Schwarzen Menschen (1) und anderen marginalisierten Gruppen verstärken, unter anderem indem diesen in der Berichterstattung keine Individualität zugestanden wird. Auch in Bezug auf die Justiz wird anhand zahlreicher zitierter Studien deutlich, dass von einer Gleichbehandlung keine Rede sein kann. Aus diesem und anderen Gründen fordert Emilia Roig die Abschaffung von Polizei und Gefängnissen. Die Politikwissenschaftlerin legt dar, dass Gesetze fast immer die Privilegierten schützen und in vielen Fällen zur Beibehaltung von Unrecht beitragen. Abschreckende Strafen führen zu einem Kampf des Staates gegen bestimme Bevölkerungsgruppen, statt die Ursachen der Straftaten zu bekämpfen, die Roig zufolge in Armut, Rassismus und Sexismus begründet liegen.
Auch Carearbeit, Sexarbeit und die Frage, wie ein Ende der Lohnarbeit gestaltet werden müsste, um dabei Ungleichheiten abzubauen, werden diskutiert. Mit Blick auf Körper geht es um Gesundheit als Norm und darum, dass People of Color, Frauen*, Übergewichtige und andere Gruppen mit einer schlechteren medizinischen Behandlung rechnen müssen. Zudem problematisiert Roig staatliche bzw. politische Einmischung in Fragen der Reproduktion und fordert das Recht auf reproduktive Selbstbestimmung. Sie thematisiert nationalistische Narrative und die Frage, wie der Kampf gegen Sexismus und sexualisierte Gewalt gestaltet werden kann, ohne rassistische Stereotype zu bedienen.
Zum Aufdecken von Ungleichheiten gehören ihr zufolge beide Seiten, und es ist ein wichtiger Schritt, uns auch die Privilegien, die wir aufgrund unserer Identität erfahren, bewusst zu machen. Dabei betont sie, dass Privilegien nicht bedeuten, dass eine Person ein leichtes Leben hat oder sich für ihre Erfolge nicht anstrengen muss. Erst wenn wir uns eingestehen, Fehler zu machen und verletzlich zu sein, ist statt einer irreführenden Einteilung in böse, rassistisch denkende Menschen und empathische Nicht-Rassist*innen ein echtes Verständnis füreinander möglich. Trotz all der schmerzhaften historischen und aktuellen Verletzungen, die die Autorin anführt, wünscht sie sich Gerechtigkeit für alle – unabhängig davon, „ob sie gute oder schlechte Menschen sind, ob sie hart gearbeitet haben, um dorthin zu gelangen, wo sie sind, oder ob sie rassistisch/sexistisch/behindertenfeindlich/homofeindlich sind oder nicht“. Das heißt aber nicht, die eigene Wahrnehmung zu verleugnen. Sie spricht sich für Selbstfürsorge aus und zeigt Wege zum Umgang mit eigenen Verletzungen, aber auch mit transgenerationellen Traumata. Im Sinne eines pluraleren, weltumspannenderen Verständnisses von Wissen nennt Roig ihre Suche nach Verständigung und mehr Empathie eine spirituelle Öffnung, die sie aber nicht als religiös verstanden wissen will. Sie plädiert für eine Selbstliebe, die Hierarchien überflüssig macht, für ein Verständnis der Einheit aller Lebewesen und für den Mut zum gesamtgesellschaftlichen Neubeginn ohne Gefängnisse, Lohnarbeit und andere Ausbeutungsverhältnisse.
Beim Lesen des Buches wird Emilia Roigs Wut über Zustände spürbar – sowie ihr Glaube an die Möglichkeit zur Veränderung, den sie immer wieder mit Beispielen erfolgreicher historischer Kämpfe untermauert.

(1) Um die Hierarchien zwischen den gesellschaftlichen und politischen Identitäten von Schwarz und weiß zu dekonstruieren, wird Schwarz groß geschrieben und weiß klein.