so viele farben

Europas Kampf gegen Migration

Abschottung an den östlichen Außengrenzen der EU

| Monty

Die Gräber einiger Toter auf dem muslimischen Friedhof von Bohoniki, welche im Grenzgebiet der Festung Europa ihr Leben verloren. - Foto: No Boraders Team

Im Spätsommer und Herbst 2021 waren die Ereignisse um die polnisch-belarussische Grenzregion in vielen Medien präsent. Tausende Menschen wurden von belarussischen Grenzbeamt*innen und Militärs an die Grenze zu Polen gebracht; mit der Perspektive auf diesem Wege nach Europa zu gelangen. Polen riegelte ab und so „strandeten“ die Menschen auf ihrer Flucht nach Europa in einem schmalen Korridor zwischen den Ländern. Die Bilder gingen damals um die Welt: die Grenzregion wurde militärisch abgeriegelt, eine Sperrzone errichtet, Journalist*innen und solidarische Menschen wurden daran gehindert ihre Arbeit zu verrichten. In diese Zone durften lediglich Menschen einreisen, welche entweder dort einen Wohnsitz haben oder vom obersten Befehlshabenden der „Straż Graniczna“, der Polnischen Grenzwache, eine Sondergenehmigung erhalten hatten. Ähnliches geschieht derweil auch in Litauen.

Die mediale Aufmerksamkeit ist abgeklungen, doch es ist seither viel passiert und passiert weiterhin: Gesetzesänderungen im Asylwesen, der Bau des Grenzzauns und die weitere Militarisierung der östlichen Region Polens, Podlachien. Doch Menschen auf der Flucht versuchen weiterhin über diese Route nach Europa zu gelangen. In Litauen ist die Situation ähnlich, auch hier werden Menschen täglich nach Belarus zurückgedrängt, ohne eine faire Chance auf einen Asylantrag.

Militarisierung und Technologisierung entlang der Grenze

Im späten Sommer 2022 wurde der Bau des Grenzzaunes zwischen Belarus und Polen abgeschlossen. Das ist eine 5,5 Meter hohe und 186 Kilometer lange Stahlkonstruktion, durchgängig versehen mit NATO-Draht. Nun werden elektronische Bewegungsmelder und Wärmebildkameras installiert, die Ausweitung und der Ausbau der elektronischen Überwachung schreitet täglich weiter voran. Militär und freiwillige Verteidigungseinheiten (WOT) patrouillieren in regelmäßigen Abständen entlang des Grenzzauns. Diese Installationen sind jedoch lediglich eine Erschwernis, kein Hindernis. Die Menschen nehmen nun gefährlichere Wege in Kauf, sie waten zum Beispiel durch Flüsse und Sümpfe. Was dies im Winter bedeutet, kann sich sicherlich vorgestellt werden. Seit November 2022 gehen nicht mehr so viele Anrufe bei der zentralen Notfallnummer ein, welche betrieben wird, um für Menschen eine direkte Unterstützung zu organisieren. Das hat vermutlich mit dem Wintereinbruch zu tun, aber auch mit den erwähnten Installationen entlang der Grenzlinie. Aber das kann sich schnell wieder ändern, so die Erfahrungen vom letzten Winter. Es gibt immer wieder Zeiträume in denen die Notfalltelefone ruhig bleiben.

Fluchtgründe und Herkunft der Menschen sind divers

Die Menschen, welche auf dieser Route nach Europa gelangen wollen, starteten ihre Reisen aus verschiedenen, ehemals kolonialisierten Ländern, aus Zentral- oder Südasien und unterschiedlichen afrikanischen Ländern. Immer öfter kommen aber auch Menschen über diese Route, die sich vorher bereits für längere Zeit in Russland aufgehalten haben. Die Gründe sind unterschiedlich: Krieg und Vertreibung, politische Verfolgung, Verarmung und Hunger aufgrund kolonialer Ausbeutung und Folgen des Klimawandels, Perspektiven auf ein besseres Leben. Einige Menschen haben Freund*innen und Familie in Europa und möchten mit diesen Menschen zusammen leben.
Ein elementarer Punkt in der polnischen Asylpolitik ist, dass die Grenzwache (Straż Graniczna) eigenständig entscheiden kann, wer das Recht hat, einen Asylantrag zu stellen und wer nicht (1). Darüber hinaus hat sie den Befehl von der polnischen Regierung bekommen, Push-backs fernab des öffentlichen Bewusstseins durchzuführen. Polen stellte somit nationales über internationales Recht, bisher ohne rechtliche Konsequenzen (2). Selbst Schwerverletzte bitten darum, nicht den Rettungsdienst zu rufen, da ein Rettungseinsatz auch Polizei und/oder Grenzwachen alarmiert und somit aller Wahrscheinlichkeit nach ein Push-back zur Folge hat.

Ein elementarer Punkt in der polnischen Asylpolitik ist, dass die Grenzwache (Straż Graniczna) eigenständig entscheiden kann, wer das Recht hat, einen Asylantrag zu stellen und wer nicht . Darüber hinaus hat sie den Befehl von der polnischen Regierung bekommen, Push-backs fernab des öffentlichen Bewusstseins durchzuführen.

Für diejenigen, die es schaffen einen Asylantrag in Polen zu stellen, ist die Perspektive eines der „Detention Center“. Das sind zum Teil geschlossene und überfüllte Lager (3). Es sind mehr Gefängnisse als Aufnahmestellen, die Verhältnisse darin sind gewaltsam und menschenunwürdig. Am 13. August 2021 wurde eine Verordnung zu den Haftbedingungen geändert, welche es nun erlaubt, doppelt so viele Inhaftierte auf gleichem Raum einzusperren (4). Bis zu 18 Monate werden Menschen dort ihrer Freiheit beraubt (5). Polen ist daher selten das endgültige Reiseziel der Menschen, viele wollen meist weiter, z.B. nach Deutschland oder Frankreich.

Die Grenzgewalt fordert Menschenleben

Es gibt mittlerweile über 30 bestätigte Todesfälle in den polnischen Wäldern im Verlaufe der letzten 15 Monate. Mehr als 210 Menschen gelten als vermisst (6). Was in den belarussischen Wäldern geschieht, ist kaum bekannt. Augenzeug*innen berichten von vielen Toten, bestätigte Zahlen gibt es keine. Alleine in der ersten Januarhälfte 2023 wurden innerhalb einer Woche die Leichen von vier Personen in der Nähe des Grenzzauns aufgefunden. Eines der Opfer ist ein junger Arzt aus dem Jemen. Seine Begleiter*innen berichteten, sie hätten polnische Beamt*innen gebeten, dem Sterbenden zu helfen. Doch statt ihnen zu helfen, haben sie sie nach Belarus zurückgeschoben.
In Polen agieren Grenzwache, Polizei und Militär an der Grenze nach Belarus, alles nationale Einheiten. Viele Einwohner*innen melden sich bei der freiwilligen Armee WOT (Wojska Obrony Terytorialnej: Truppen der Territorialverteidigung) (7), die lediglich ein sechzehn tägiges Training erfordert, um bewaffnet an der Grenze patrouillieren zu gehen. Für Menschen auf der Flucht bedeutet das vor allem eins: Wer nicht aus der Region kommt, fällt sofort auf. Unbemerkt über Felder und Waldwege zu laufen, das ist fast unmöglich. Welche offiziellen Befugnisse das Militär in der Grenzregion hat, wird nicht kommuniziert. Jurist*innen stellen seit über einem Jahr Anfragen an zuständige Behörden, bekommen jedoch keine Antworten, da die Angaben mit Verweis auf die nationale Sicherheit unter Verschluss gehalten werden.

Eine Mutter mit ihrem Baby in den Wäldern des Grenzgebietes, kurz vor ihrem Push-back zurück nach Belarus durch schwer bewaffnete Soldaten der polnischen Armee – Foto: No Borders Team
Frontex hat hier keine Mandate

Frontex hat kein Mandat an der polnisch-belarussischen Grenze. Am 12. Juli 2022 verkündete die damalige amtierende Exekutivdirektorin von Frontex, Aija Kalnāja, gegenüber den Abgeordneten des Europäischen Parlaments, dass Frontex Litauen nicht mehr bei der Grenzüberwachung unterstützen werde (8). Somit reduziert sich die behördliche Präsenz bei Grenzwache, Militär und Polizei.
Push-backs sind zur Regel geworden. Am 20. August 2021 hat der polnische Minister für innere Angelegenheiten und Verwaltung, Maciej Wąsik, eine Verordnung geändert (siehe Fußnote 4), welche Push-backs legalisiert und durch die das Militär die Anordnung bekommen hat, diese ‘legal’ durchzuführen. Eine Möglichkeit für Menschen auf der Flucht legal nach Polen einzureisen gibt es nicht.
Der Zaunbau wurde im späten Sommer 2022 abgeschlossen, das elektronische Alarmsystem, Ende November in Betrieb genommen (9). Maciej Wąsik teilte am 25. November 2022 auf Twitter stolz ein Video der Aufnahmen von installierten Wärmebildkameras (10). Was dies im Hinblick auf das Gelingen der Grenzüberwindung bedeutet wird sich in der nahen Zukunft zeigen. Der Zaun, die elektronischen Barrieren und die Videoüberwachung werden die Menschen nicht davon abhalten, die Grenze zu überwinden. Die Versuche werden aber beschwerlicher und gefährlicher.

Repression auch gegen Aktivist*innen

Seit letztem Jahr wurden etliche Aktivist*innen und Unterstützer*innen mit Repression belegt. Derzeit gibt es Ermittlungsverfahren gegen Aktivist*innen zum Vorwurf der Beihilfe zum illegalen Grenzübertritt. Eines der Verfahren wurde am 5. Dezember 2022 von der Staatsanwaltschaft eingestellt (11). Schikanen bei polizeilichen Maßnahmen sind an der Tagesordnung, zum Beispiel während Verkehrskontrollen im Grenzgebiet. Die Personalienfeststellungen der Aktivist*innen dauern zum Teil zwischen 30 und 60 Minuten und werden von Gewaltandrohungen begleitet.
Genoss*innen berichteten von gewalttätigen Übergriffen während solcher Maßnahmen: Sie wurden aus Autos gezerrt, mussten sich zur Personenkontrolle auf die Straße legen und wurden bedroht. Ebenso werden auch immer wieder Smartphones der Aktivist*innen untersucht, sie müssen anhand der IMEI (eindeutige und einmalige Hardwarenummer eines Mobiltelefons) beweisen, dass das Gerät nicht gestohlen ist. Mit solchen Smartphonekontrollen erhoffen sich die Beamt*innen, an Informationen aus Messenger-Chats zu gelangen, Beweise für etwaige Gesetzesübertretungen zu finden und aktuelle Aufenthaltsorte von Menschen auf der Flucht zu erfahren. Auch kommt es vor, dass Aktivist*innen auf den Polizei- oder Grenzposten mitgenommen werden. Dabei werden sie so lange festgehalten, bis ihre Identität geklärt ist, auch wenn das mehrere Tage sind. Personalienverweigerung stellt in Polen keine Option dar.

Vorwürfe sind juristisch nicht haltbar

Juristisch stellen weder Hilfsmaßnahmen im Wald, das Beherbergen von illegalisierten Menschen, noch deren Mitnahme in einem Fahrzeug einen Straftatbestand dar. Im Gegenteil: nach Artikel 162 ist es jedes Menschen Pflicht, Menschen in Notsituationen zu helfen.
Im Gegensatz dazu gibt es Gerichte, welche die Aktivitäten des polnischen Grenzschutzes als rechtswidrig verurteilen. So hat z. B. am 29. November 2022 das Landesverwaltungsgericht in Białystok festgestellt, dass der Push-back eines 16-jährigen rechtswidrig war (12).
Dass noch keine gerichtlichen Entscheidungen gegen Aktivist*innen vorliegen, zeigt das perfide System. Die solidarischen Gruppen sind den staatlichen Behörden ein Dorn im Auge. Die Beamt*innen wollen die Hilfe unterbinden und Aktivist*innen mit langen, rechtlichen Verfahren zermürben. Eine Taktik, die auch in Italien und Griechenland bei der Kriminalisierung von Seenotrettung angewandt wird.
Aktivist*innen setzen sich deswegen für einen Wandel ein, in dem sie sich bereit erklären, immer wieder aufs Neue herausfinden zu können, wie wir Seite an Seite koexistieren können, wie wir eine gerechtere Verteilung der Güter ermöglichen und wie wir die rassistische neo-kolonialistische Politik stoppen können.